Rede des Botschafters von Ungarn, Dr. Péter Györkös vor der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft Berlin, den 17. Mai 2022
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Freunde! Lieber Gerhard!
Im Oktober 2021 haben wir uns das letzte Mal in diesem Kreis getroffen und versucht, die möglichen Auswirkungen der Bundestagswahlen auf die deutsch-ungarischen Beziehungen zu analysieren.
Im Mittelpunkt unseres heutigen Treffens stehen die Chancen und Herausforderungen, denen sich diese besondere, Jahrhunderte zurückreichende Beziehung angesichts der ungarischen Parlamentswahlen stellen muss.
Wir wollen nicht die Wahlergebnisse analysieren – das haben andere bereits getan -, sondern die Konsequenzen, die sich daraus für uns ergeben, die wir uns nicht nur aus Bewusstsein für unser Amt und aus beruflichem Engagement für die deutsch-ungarische Freundschaft einsetzen, sondern auch aus Glauben, Überzeugung, Mission und Leidenschaft. Die Hüter des Feuers haben es nicht leicht.
Es ist nun sieben Jahre her, dass die großen, teilweise tektonischen Bewegungen der europäischen Geschichte den Baum der Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern erschütterten. Und egal, ob es sich um eine Migrationskrise, eine geopolitische Krise oder um das Entstehen kultureller Konflikte auf europäischer Ebene handelt, irgendwie befinden wir uns immer in der Nähe des Epizentrums der Erschütterungen. Immer öfter verblassen die historischen Fäden, die Fakten verlieren ihre Bedeutung, die intellektuelle Neugier auf Fakten und die Sichtweise des Anderen schwindet.
Nur als Illustration: es gab in den letzten 10 Tagen mehr als 200 Artikel, Kommentare, Interviews über mein Land im Zusammenhang mit dem 6. Sanktionspaket. Aber es gab nur eine Interviewanfrage über die Motivation und Gründe für Ungarns Position in Fragen des Ölembargos.
Es ist nicht übertrieben, hier und da von der Gefahr einer kulturellen Entfremdung zu sprechen und zu sehen, wie sich das zarte Bindegewebe zwischen unseren Völkern auflöst. Das im Epizentrum der europäischen Umwälzungen existierende, denkende und handelnde Ungarn hat natürlich schon solche Zeiten erlebt, in denen es für sein einzigartiges, ungarisches Verhalten, für seinen Mut, man könnte auch sagen, für seine Unangepasstheit, für seinen Sonderweg unzählige Anerkennung erhalten hat. Man denke nur an das Jahr 1989.
Kurzfristige Erinnerungen sind aber wohl eher die Bilder des Ostbahnhofs in Budapest oder die Farben der Allianz-Arena und in diesen Tagen die Kommunikation, dass der einzig richtige Weg ein sofortiges Ölembargo ist, koste was wolle. Ich denke, gerade
die Aufnahme und die menschenwürdige Versorgung der fast 700.000 ukrainischen Kriegsflüchtlinge kann uns zu der Erkenntnis führen, dass Ungarn (auch) im Jahr 2015 weitgehend Recht hatte.
Wer sich für die Fakten interessiert, hat möglicherweise auch mitbekommen, aus welchem Grund das Kinderschutzgesetz verabschiedet wurde, während die Rechtsgrundlage und die Realität in Ungarn heute die gleiche ist wie in Deutschland vor dem 30. Juni 2017.
In diesen Tagen müssen wir uns mit der Frage befassen, wie wir unser uneingeschränktes Engagement für die Ukraine und das ukrainische Volk mit dem vom Europäischen Rat verabschiedeten Grundsatz in Einklang bringen können, dass die verhängten Sanktionen unsere eigenen Bürger und Volkswirtschaften nicht härter treffen dürfen als den Aggressor selbst.
Die Deutschen und die Ungarn haben immer eine entscheidende Rolle gespielt, wenn es darum ging, diese großen europäischen Fragen zu verstehen, anzugehen und zu lösen. Die Tatsache, dass Deutschland ein Schlüsselland ist, bedarf keiner großen Erklärung. Doch wie ist Ungarn in diese Position gekommen? Wenn die Allianz-Arena schon mal Erwähnung erhielt, zitieren wir hier das bayerische Sprichwort: mia san mia. Nach der deutschen Übersetzung von Google bedeutet es: Wir sind wir. Die ungarische Übersetzung ist ein wenig aussagekräftiger: Wir sind, wer wir sind. Wenn wir die Ungarn in den großen europäischen Kontext stellen, insbesondere in der gegenwärtigen stürmischen Phase geopolitischer und geoökologischer Umwälzungen, dann können wir sagen:
Wir sind WER wir sind; wir sind WIE wir sind; und wir sind WO wir sind.
Es besteht kein Zweifel daran, dass diesem Verständnis im europäischen politischen und medialen Raum nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wenn jedoch nur ein kleiner Teil der Energie und Zeit, die für die Kritik und nicht selten auch für die Verunglimpfung Ungarns aufgewendet wird, für dieses Verständnis verwendet werden könnte, sähe das Gesamtbild ganz anders aus. Sie opfern für uns viel Zeit und Energie, und ich kann mich dafür bei Ihnen nochmals nur bedanken. Sowohl in meinem eigenen Namen als Botschafter meines Landes auch im Namen Ungarns. Gleichzeitig weiß ich, Dankbarkeit ist keine politische Kategorie. Ich, der damals als junger Diplomat für die diplomatische Note zur Öffnung der Grenze im Jahr 1989 auf Beamtenebene zuständig war, argumentiere deshalb auch niemals so, dass die Deutschen uns dankbar sein sollten, schließlich hätten sie uns die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas zu verdanken.
Aber vielleicht dürften wir erwarten, dass sich die Deutschen, vielleicht sogar mit Bezug auf das Jahr 1989, zumindest bemühen, die ungarische Position, die ungarische Denkweise und das ungarische Handeln zu verstehen.
Es bedarf lediglich nur zweier Dinge: Respekt vor den Fakten und Dialog. Zweifellos sind es genau diese beiden Dinge, die auf der lauten Oberfläche in den Hintergrund gedrängt wurden. Ich behaupte es nicht nur, weil mich mein Amt zum Optimismus verpflichtet: Daran lässt sich etwas ändern. Um dies zu belegen, hier einige Fakten. Unabhängig davon, wem die ungarische Wählerschaft ihr Vertrauen schenkt, ist und bleibt Deutschland mit Abstand unser wichtigster Partner. Das häufig verwendete Konzept der strategischen Partnerschaft wird durch die historische und kulturelle Nähe zwischen Ungarn und Deutschen qualitativ ergänzt.
Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn einige Wahlen in Deutschland miterlebt, und ich habe immer festgestellt, dass diese besondere Beziehung von den Regierungen in Bonn und Berlin entsprechend behandelt wird. Obwohl einige „gehofft“ haben, dass sich dies nun ändern würde, kann ich den Mitgliedern der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft mitteilen, dass mit der „Ampel-Regierung“ nicht verblassen wird, was an dieser besonderen Beziehung so wertvoll ist. Wir werden gemeinsam daran arbeiten, die Zusammenarbeit auf dieser historischen Grundlage so zu gestalten, dass sie den Prioritäten beider Regierungen für die kommenden Jahre und auch einem sich dramatisch verändernden geopolitischen und geoökonomischen Umfeld gerecht wird.
Die Bundesregierung, die am 8. Dezember 2021 nach dem Willen der deutschen Wähler gebildet wurde, hat während des Wahlkampfes in Ungarn Geduld, strategische Geduld bewiesen und unter Berücksichtigung und Respekt des klaren Willens der ungarischen Wähler die Türen zu einer neuen Ära der Zusammenarbeit geöffnet, die uns schrittweise und konsequent
in eine neue Phase der Zusammenarbeit, Richtung Stärkung des Zusammenhaltes unserer beiden Völker, unserer beiden Länder und der Europäischen Union führen kann.
Treffen und Verhandlungen zwischen beiden Staaten, zwischen den Regierungen und auf Parteienebene sind bereits in Vorbereitung. Das soll auch dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen.
Doch ohne Ihre Unterstützung kann dies alles nicht gelingen. Und wenn, dann wissen Sie es besser als jeder andere, dass es heute nicht mehr so einfach ist, wie es um 1989-1990 war. Ihnen muss man nicht ausführlich erklären, was das bedeutet: „wir sind WER wir sind, WIE wir sind und WO wir sind“. Wie in der Vergangenheit werde ich auch heute und in Zukunft all Ihre Fragen beantworten. Denn ich weiß, dass Sie heute nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch in Ihrem Freundeskreis und sogar in Ihrer Familie immer häufiger mit Ihrer Freundschaft zu Ungarn konfrontiert werden.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, sollen hier einige Punkte genannt werden, um unsere heutige Diskussion zu beginnen.
- Wären wir Ungarn im Sommer und Frühherbst 1989 nicht diejenigen gewesen, die wir sind, und nicht dort gewesen, wo wir waren, dann wäre der erste Stein aus der Berliner Mauer nicht geschlagen worden.
- Wenn wir im Jahr 2015 nicht diejenigen sind, die wir sind, und nicht dort sind, wo wir waren, dann wäre die größte Errungenschaft der europäischen Integration, nämlich der durch Schengen geschützte Binnenmarkt zusammengebrochen. Und dann habe ich noch nicht an die rhetorische Frage des ehemaligen Direktors von Amnesty Deutschland aus dem Jahr 2016 erinnert: „Wie sähen die nationalen Parlamente heute aus, wenn Viktor Orban die grüne Grenze nicht geschlossen hätte?“ Zum Beispiel der Deutsche Bundestag?
- Wenn der ungarische Ministerpräsident nicht die These von der „illiberalen Demokratie“ geäußert hätte, die in Deutschland als Blasphemie gilt und unendlich schwer zu erklären ist;
- Wenn das ungarische Parlament nicht das Kinderschutzgesetz verabschiedet hätte;
dann frage ich mich, ob wir den Punkt erreicht hätten, an dem wir zumindest hier und da eine sehr wichtige Debatte beginnen können und uns dabei gegenseitig in die Augen schauen können. Und in dieser Debatte geht es um das Wesen, den geistigen und materiellen Inhalt des Problems, ohne dessen Lösung die ideologische, kulturelle Debatte Richtung „Kulturkampf“, sogar „Kulturkrieg“ eskalieren kann,
während die Lösung von Konflikten mit kulturellen Wurzeln eine grundlegende Voraussetzung für den Zusammenhalt der Europäischen Union und des Westens ist.
Diese Konflikte können gelöst werden, indem wir uns gegenseitig Respekt entgegenbringen. Sie können gelöst werden, wenn wir (wir auch) angehört werden, wenn unser Toleranzangebot gehört und angenommen wird, sei es bei der Einwanderung oder bei der Erziehung unserer Kinder. Wenn wir das europäische Engagement des anderen nicht in Frage stellen, wenn wir akzeptieren, dass der andere auch ein guter Mensch ist, und wenn wir in der Lage sind, einen Rahmen für ein großes europäisches kulturelles Zusammenleben, einer co-habitation zu schaffen.
Die Aggression gegen die Ukraine markiert den Beginn einer neuen Ära. Fast alles wird von diesem Krieg überschrieben. Fast alles. Der 24. Februar 2022 hat nichts an der Tatsache geändert, dass wir Ungarn sind, wer wir sind, wie wir sind und wo wir sind.
Als gute Europäer, als verlässliche NATO-Verbündete, als Aufnahmeland von fast 700.000 ukrainischen Flüchtlingen werden wir alles tun, um den Zusammenhalt der EU, die NATO und deren Ostflanke zu stärken und um den Krieg zu beenden, den Frieden und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen.
Aber wir sind dort, wo wir sind. Es wäre ausreichend einen Blick auf die Landkarte zu werfen und es würde nicht schwer fallen, die beiden eher heftig geführten und spaltenden Diskussionen zu verstehen und zu lösen.
2015 wurde Europa von einer Migrationskrise fast gesprengt, die noch heute nicht abgeklungen ist. Damals sagte Ungarn, hier, wo wir sind, sehen wir uns keiner Flüchtlingskrise, sondern einer Krise der Migration, der illegalen Einwanderung gegenüber, die aufgehalten werden muss. Den Menschen in Not muss geholfen werden, aber in nächstmöglicher Nähe zu ihrer Heimat, vor Ort, denn es ist keine Lösung, wenn die EU unlösbare Probleme in ihr eigenes Gebiet importiert, sondern wenn sie ihre Hilfe exportiert. Das tun wir auch mit dem Programm „Hungary Helps”.
Als Ende Februar 2022 zehntausende, bald hunderttausende ukrainische Flüchtlinge zur ungarischen Grenze kamen und mit offenen Armen empfangen wurden, versagten unseren ständigen Kritikern die Stimmen, eine Zeit lang warfen sie noch Andeutungen von Rassismus ein, dann verstummten sie. Wobei auch hier ein Blick auf die Landkarte bzw. die Genfer Konvention helfen könnte, denn in diesem Fall ist Ungarn das erste sichere Land.
Bevor wir unsere Diskussion beginnen, sollten wir uns noch einmal die Landkarte vornehmen. In diesen Tagen und Stunden ist
das schon routinierte Hungary bashing aufgrund der Verhandlungen über das Ölembargo wieder ganz oben auf die Tagesordnung geraten.
Lasst es uns festhalten: Ungarn hat kein Veto eingelegt, sondern die Überarbeitung des ersten Kommissionsvorschlags initiiert, der die von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten Prinzipien außer Acht ließ. Denn wir sind, WO wir sind. Seit Jahrzehnten bemühen wir uns um Unabhängigkeit, das ist auch im Bereich Energie nicht anders. Aber wir haben keine Küste. Wir haben keinen Hafen. Wir haben vergeblich in alle Himmelsrichtungen Interkonnektoren gebaut, wenn wir in die Röhre schauen, kommen uns fast überall russische Moleküle entgegen. Am Balaton kann man kein LNG-Terminal bauen. Ich meine, man könnte natürlich, aber es würde keinen Sinn machen, denn weder zum Balaton, noch zur Donau gelangen die riesigen Tankschiffe. Ungarn braucht Zeit und es muss enorme Ressourcen mobilisieren.
Bei Ihnen gibt es eine intensive Diskussion darüber, wie man das Problem der Schwedter Raffinerie lösen kann, welches ein regionales ist. Und es ist dennoch ein großes Problem, selbst für das große Deutschland. Unser Problem ist durch unsere geographische Lage nicht regional.
Das falsche Vorgehen kann die ganze Volkswirtschaft, die Gesellschaft im Ganzen treffen. Wir tun, was wir können um den Aggressor zurückzudrängen. Aber wir können es nicht akzeptieren, dass die ungarische Wirtschaft anstelle der des Aggressors auf die Knien geht.
Bei uns geht es nicht um die Frage, ob wir das Thermostat um 2-3 Grad runterstellen, sondern darum, ob die Heizung läuft oder gar nicht läuft. Auch für diese Fragen gibt es Lösungen, aber natürlich nur dann, wenn es erkannt und anerkannt wird, dass sich Ungarn für die ungarischen Interessen stark macht, für sie eintritt. Diese werden nur und ausschließlich in Budapest, und nicht irgendwo anders definiert. Denn wir sind, wer, wie und wo wir sind.
Ich bedanke mich für Ihr Kommen! Ich bedanke mich für Ihre Freundschaft und ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen!
Autor, Dr. Péter Györkös ist außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter von Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland seit 2015
MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20220531-a-tenyek-tisztelete-es-a-parbeszed
Bildquelle: Wikipedia (Botschaft der Republik Ungarn in Berlin-Mitte, Unter den Linden 76.)