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Vergleichende Illiberalismuskunde

Eine subjektive Führung durch den Irrgarten der deutsch-ungarischen Wahrnehmung, Reflexion und Selbstreflexion

28. September 2021 Gastbeitrag von Balázs Horváth

2005 hatte The Economist Deutschland zum „Kranken Mann“ Europas erklärt. Doch der Kranke hat die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 nicht nur überlebt, sondern die deutsche Wirtschaft ist gestärkt aus der Krise gekommen. Wie kann man das erklären? The Economist hat 2011 darauf drei Antworten gefunden:

  1. Arbeitsmarktreformen (Harz IV etc.). Dadurch ist es gelungen, die Anzahl der Arbeitslosen zu senken, die Anzahl der nicht Erwerbstätigen auf jeden Erwerbstätigen von 1.1 auf 1.0 zu drücken. Das veranschaulicht, vor welcher Herkulesaufgabe die Orbán-Regierung 2010 stand: in Ungarn lag dieses Verhältnis bei 1.7. Nach 11 Jahren ist diese Zahl auf 1.1 (die im Ausland arbeitenden Ungarn miteinbezogen 0.9) gesunken.
  2. Auslagerung der Produktion ins billige Osteuropa. Osteuropa ist nicht nur billig (der deutsche Brutto-Arbeitslohn iegt zur Zeit bei knapp 20 €, der ungarische bei 5.60 €), sondern auch effizient. Dank der Zuschüsse der EU wird die osteuropäische Infrastruktur auch immer mehr entwickelt, weshalb eine nahtlose Einbindung der osteuropäischen Betriebe im Just-in-time-Workflow ermöglicht wird. Es geht aber lange nicht mehr nur um Produktion, sondern auch um Entwicklung: der neu ernannte Forschungsleiter der Budapester Bosch-Zentrale ging sogar so weit, Ungarn das Silicon Valley der europäischen Autoindustrie zu nennen. Umso überraschender ist, dass diese Leistung von Osteuropa in der deutschen Öffentlichkeit, wenn überhaupt, nur negativ wahrgenommen wird. Martin Schulz, der damalige Vorsitzende der SPD sprach sogar von einem „Job-Klau“, die Verdi über soziales Dumping.
  3. Am interessantesten ist aber das Phänomen, welches in Deutschland als das Jobwunder der kleinen und mittelständischen industriellen Unternehmen bezeichnet wird. The Economist hat sich Gedanken gemacht, wie es sein kann, dass diese Art von Familienunternehmen, während sie in anderen EU-Ländern fast vollständig verschwunden sind, in Deutschland dagegen floriert. Die Antwort ist: im Widerspruch zur liberalen Wirtschaftslehre wollen die Familienunternehmen ihren Profit nicht maximalisieren. Ihr Ziel ist längerfristig Wert zu schöpfen, die Firma wertvoller an die nächste Generation weiterzugeben, als sie es bekommen haben. Dabei ist diesen Unternehmen bewusst, dass dieses delikate wirtschaftliche Ökosystem nur gemeinsam überlebensfähig ist. Aus diesem Grund wählen sie auch dann deutsche Zulieferanten, wenn es billigere ausländische Alternativen gibt. Diese Verhaltensmuster hat auch Viktor Orbán für sich entdeckt und hat ihnen sogar einen Namen verliehen. Er nannte das „alltäglichen Nationalismus„. Das ist ein Ausdruck, der alle deutschen Politiker oder Journalisten vor Entsetzen laut aufschreien lässt. Während der alltägliche Nationalismus in Ungarn jedoch eine Utopie ist, ist er in Deutschland eine alltägliche Praxis.

Es geht nicht nur um das Inland: Die deutschen Unternehmen treten im Ausland wie eine Phalanx auf. Es ist üblich, dass sich Manager von großen deutschen Unternehmen an einem Standort regelmäßig treffen. Es geht um Erfahrungsaustausch, aber auch um die Eingrenzung der explodierenden Lohnkosten. So würde es zumindest das Handelsblatt formulieren. Die Taz dagegen – wenn es um Bolivien und amerikanische Firmen ginge, würde es wahrscheinlich so sehen, dass die amerikanischen Firmen ein Kartell bilden, um die Löhne künstlich niedrig zu halten.

Noch schwieriger wird es, wenn ungarische Unternehmen in Deutschland etwas verkaufen möchten. Ich arbeite bei einer österreichischen Hightech-Firma. Auch wir werden mit solchen Meinungen konfrontiert, dass es zwar beindruckend wäre, was wir alles können, aber „wenn ihr das schon da unten hinkriegt, dann müssen das die deutschen Firmen schon viel länger und viel besser machen können“. Man kann sich ausmalen, wie schwer es für ein osteuropäisches Unternehmen ist, in Deutschland irgendetwas zu verkaufen. Und wenn es doch gelingt, dann kommt die Preisfrage: Das Standardargument, das ich von mehreren ungarischen Unternehmern gehört habe: „Ihr seid keine Deutschen, warum wollt ihr dann deutsche Preise?“.

Und wenn ein osteuropäisches Unternehmen trotz der gedrückten Preise erfolgreich wird, dann schaltet sich die deutsche Verwaltung ein. In den letzten Jahren sind ungarische und polnische Logistikfirmen sehr erfolgreich geworden, aber nur – so die deutschen Bürokraten – weil die osteuropäischen LKW-Fahrer zu billig sind, und das wäre ein unfairer Wettbewerbsvorteil. Also muss eine neue europäische Regelung her: die LKW-Fahrer müssen mehr Lohn bekommen, wenn sie in Deutschland tätig sind. Die Tatsache, dass osteuropäische Unternehmen 2-3-mal so hohe Zinsen zahlen müssen wie die westliche Konkurrenz, scheint nicht unfair zu sein. Auch nicht, dass – wie das ungarische Kartellamt festgestellt hat – die Ossis die LKW-s von den westlichen LKW-Herstellern teurer bekommen als die westliche Konkurrenz.

Also, der „alltägliche Nationalismus“ ist – nach wie vor- ein essentieller Grundpfeiler der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Es muss für diejenigen, die glauben, Deutschland lebe schon längst in einer postnationalen Epoche, überraschend sein. Wenn man sich in Deutschland umhört, hört tatsächlich niemals irgendetwas über deutsche Interessen. Ganz im Gegenteil zu Ungarn, wo Regierung und Opposition gleichermaßen über die heimischen Interessen, Heimatliebe etc. predigen. Keine Frage, die politische Sprache in Deutschland ist viel angenehmer als bei uns. Nichts desto trotz wünschte ich mir manchmal, dass es auch deutsche Interessen gäbe. Jetzt habe ich das Gefühl, anstatt der deutschen hören wir von europäischen Interessen. So wurde der South–Stream, also die direkte Gasleitung zwischen Russland und Ostmitteleuropa, ein Verrat an Europa. Als Ungarn dafür war, war ein Beweis daran, dass Orbán das Trojanische Pferd von Putin ist. Nord-Stream dagegen, also die direkte Gasleitung zwischen Russland und Deutschland, ist, wie Heiko Maas erklärte, essentiell für die Energiesicherheit Europas.

Oder der Fall vom angeblich links-liberalen Spiegel: Als E.ON in Deutschland 6% Gewinn erzielte, hat der Spiegel auf der Titelseite gefordert die Strompreise zu senken. Es hieß, in dieser Branche wären solche Margen nicht üblich, und hohe Strompreise wären unsozial. Zum Vergleich, zur selben Zeit hat RWE in Ungarn 17% Gewinn eingefahren. Nun, im Jahr 2010, musste die Orbán-Regierung die Neuverschuldung auf deutschen Druck drastisch senken. Der Vorschlag des IWF war, die Renten zu kürzen. Die Durchschnittsrente war weniger als 400 €. Also hat Viktor Orbán den Ratschlag des IWF nicht befolgt, sondern eine Sondersteuer für Branchen mit Extraprofit eingeführt. Das hat sowohl den Energiesektor als auch RWE getroffen. Der Spiegel hat diesmal keine sozialen Aspekte gesehen, sondern nur eine populistische und xenophobe Motivation.

Das hat einen Namen, wenn das soziale Mitgefühl nur bis zur nationalen Grenze hält, aber dieser Name hat weder mit Links noch mit Liberal etwas zu tun.

Ich finde sympathisch, dass die Deutschen grundsätzlich eine sehr positive Meinung über ihr eigenes Land haben. Aber ich finde manchmal sogar beängstigend, dass dieser Nationalstolz nicht wahrgenommen und darauf nicht reflektiert wird,. Als 2011 im europäischen Parlament über das ungarische Mediengesetz diskutiert wurde, hat ein CSU-Abgeordneter einen Teil aus dem neu verabschiedeten Mediengesetz von Nordrhein-Westfalen vorgelesen: der NRW-Ministerpräsident einen direkten Einfluss auf den Westdeutschen Rundfunk (WDR) hat! Die Antwort kam prompt: Eine grüne Abgeordnete hat sich empört, dass man „in Deutschland ungarische Verhältnisse sehe“. Damit hat sie, wahrscheinlich ungewollt, ein Paradebeispiel für vorurteilbehaftetes Denken geliefert. Das ist kein Einzelfall. Die europäische Kommission hat in ihrem extrem einseitigen „Rechtsstaatlichkeit-Report“ vorsichtig Deutschland kritisiert, da in einigen Bundesländern der Ministerpräsident Einfluss auf die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft ausüben darf. Die Antwort:

Das sei ja kein Problem, in Deutschland werde diese Macht nicht missbraucht.

Ist das so? Wenn das so ist, wie kann man behaupten, dass in Ungarn die Staatsanwaltschaft unter der Kontrolle der Regierung steht“, obwohl der Ministerpräsident über solche Rechte gar nicht verfügt.

Wir Ungarn erfahren von deutscher Seite solche Vorurteilhaftigkeit tagtäglich.

Es sollte niemanden wundern, dass wir in der deutschen Begeisterung für den Regenbogen oder im Knien für BLM kein Zeichen der hohen Toleranz. Vielmehr nehmen wir das als Ausdruck der moralischen Überlegenheit wahr. Diese Aktionen lösen dementsprechend Irritation und Trotzreaktionen aus. Das wiederum wird in Deutschland als Bestätigung für die eigene Überlegenheit wahrgenommen. Wieder einmal eine Eskalationsspirale der Missverständnisse.

Dilemma

Das ungarische Dilemma spaltet die Gesellschaft in zwei Teile.

Die Hälfte sagt: Ungarn ist klein, wir müssen den Stärkeren gehorchen: ob der Starke gerade das Nazi-Deutschland, die Sowjetunion, die EU, die Vereinigten Staaten ist, oder vielleicht einmal China wird, ist egal. Hauptsache, alles mitmachen, dann wird uns vielleicht erlaubt unsere kleinen Brötchen zu backen.

Von der anderen Hälfte der Gesellschaft wird diese opportunistische Haltung strikt abgelehnt, diese sieht die westliche Orientierung von Ungarn vor allem darin, dass wir für unsere Werte geradestehen, gerade das unterscheidet uns von den Balkanländern. Aber was können wir tun, wenn der Westen diese Haltung von uns nicht akzeptiert? Wie finden wir den schmalen Grat, dass wir Ungarn uns nicht aufgeben, aber auch nicht in ständigem Konflikt mit unseren Verbündeten stehen? Und mehr noch: Gibt es diesen Grat überhaupt?

Das deutsche Dilemma hat Viktor Orbán so zusammengefasst, dass Deutschland sich entschieden muss, ob es ein europäisches Deutschland oder ein deutsches Europa haben möchte. Ist Deutschland also bereit, die Vielfältigkeit der europäischen Länder zu akzeptieren, darin die Vorteile und nicht die Probleme sehen, oder versucht es als stärkstes Land der EU, die deutschen Interessen durch die EU-Institutionen durchzusetzen? Die Selbstverständlichkeit, womit Deutschland versucht, seine Normen und Interessen in der EU durchzusetzen, liegt nicht nur an der unreflektierten Selbstschätzung, sondern dahinter verbirgt sich ein Bild. Die Deutschen sehen die EU als einen Zug, in dem Deutschland die Lokomotive ist, die die anderen Länder hinter sich herzieht. Was also gut für die Lokomotive ist, bewegt den ganzen Zug.

Nun, die modernen ICE-Züge funktionieren anders. Es gibt keine Lokomotive mehr, sondern alle Wagons haben ihren eigenen autonomen Antrieb. Die Ingenieure haben ausgerechnet, dass sich auf diese Weise mit weniger Energie höhere Geschwindigkeiten erreichen lassen. Wenn Deutschland anstatt seiner Instinkte auf die Berechnungen der Ingenieure hören könnte, könnte das auch eine Lösung für das ungarische Dilemma liefern.

Autor ist  Dr. phil. nat. Balázs Horváth

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