4. Juni, 2020 – F.A.Z. Essay Podcast von PAUL HEFTY
Daniel Deckers, Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und verantwortlich für das Ressort „Die Gegenwart“, trägt den Essay vor.
Vor hundert Jahren wurde der Vertrag von Trianon unterzeichnet, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor. Das Land sah sich als unschuldiges Opfer der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Aber war es das auch?, fragt der Essay-Podcast.
Wer Ungarn begreifen will, sollte zwei Daten kennen: den 23. Oktober 1956 und den 4. Juni 1920. Beide prägen bis heute das Selbstverständnis der Bürger ebenso wie die Staatsauffassung aller Gremien und Parteien. Aus den damaligen Entscheidungen wurden jene Lehren gezogen, die das heutige Ungarn kennzeichnen, gleich ob diese an der Oberfläche erkennbar sind oder im Wurzelwerk wirken.
Der 23. Oktober ist noch manchen Zeitzeugen in Erinnerung. Damals brach in Budapest der machtvollste Aufstand aus, der in einem sowjetisch besetzten und kommunistisch regierten Land Europas seit 1945 je loderte. Er wurde an Wagemut und Härte, aber auch an Brutalität vielfach beider Seiten bis zur Wende 1989 nicht mehr übertroffen. Es war kein Aufstand eines ideologischen Lagers gegen eine andere Ideologie. Es war der Aufstand einer Nation gegen einen übermächtigen anderen Staat, in welcher Systemuniform er auch daherkommen mochte.
Keinerlei Aussicht auf irgendetwas Erstrebenswertes bot den Ungarn hingegen der 4. Juni 1920. Auf den Friedensvertrag, der im Schloss Grand Trianon bei Paris unterzeichnet wurde, reagierten die Ungarn mit dem Verzweiflungsschrei „Nem, nem, soha“ – „Nein, nein, niemals“. Niemals wollten die Ungarn sich mit dem abfinden, was die Siegermächte des Ersten Weltkrieges ihnen „an himmelschreiendem Unrecht“ angetan hatten. Aber war es so auch?
Paul Hefty war bis 2012 verantwortlicher Redakteur für das Ressort „Zeitgeschehen“ der Frankfurter Allgemeinen
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