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Wir haben einen Segen geerbt

22. September 2023 Ma7

Was wäre, wenn wir sagen könnten, ich bin stolz darauf, ein Ungar aus der slowakischen Oberungarn zu sein? Wenn wir sagen könnten, dass unsere Verletztheit nicht in die Schmerzlinderung flüchtet, sondern daraus etwas Neues erschaffen wird? Und ich würde mich gegen den Mainstream, gegen den liberalen Westen, stellen und sagen, jawohl, wir sind stolz darauf, Ungarn aus Oberungarn zu sein!

Eine der heute bekanntesten Psychologinnen, Emőke Tapolyai, meint, wir können alle trotz unserer Leiden und Prüfungen frei sein und individuell sowie in unseren Beziehungen ein erfülltes Leben haben. Es ist wichtig, dass wir uns selbst, unser Leben und Schicksal ohne Extreme betrachten. Die Neigung zur Angst und Depression und die Erinnerung an diese erben wir auf der Ebene unserer Zellen. Das ist das ererbte Schicksal. Die Lösung liegt nicht darin, dass ich seziere, wo ich Opfer war, und was für eine Opferrolle ich geerbt habe. Denn unsere Lebensgeschichte hat auch eine andere Seite, nämlich das erworbene Schicksal, dieses muss man als Christ im Auge behalten. Dieses erarbeitete Schicksal wurde teuer erkauft. Das ist unser Schicksal, das wir durch Christus erhalten haben. Dieses Schicksal öffnet uns die Tore für die ständigen Neuanfänge. Deshalb dürfen wir unsere Geschichte nicht mit den Augen eines Opfers anschauen, weil diese Betrachtungsweise uns selbst in das Schicksal eines Opfers drängt.

Die Botschaft Christi ist die Botschaft des Neuanfangs.

Es ist wichtig, dass wir sowohl unsere eigene, als auch die allgemeine Geschichte kennen, die durch einen roten Faden des Fluches durchdrungen sind, aber die Gnade Gottes kann diesen Faden in einer Weise durchschneiden, dass der Fluch ohnmächtig zu Boden fällt. Wir sind dann in der Lage, die Hoffnung in die Zukunft zu setzen, wenn wir sehen, welchen Neuanfang uns Gott anbietet. Hier denke ich an die Ungarn in den abgetrennten Gebieten: wir existieren immer noch, und es ist mit uns nicht zu Ende gegangen.

Das ist eine riesige Kraftquelle, aber wir nutzen sie nicht. Wenn wir uns ständig darauf konzentrieren, was wir ererbt haben, dann macht das uns depressiv, angstvoll. Aber wenn wir erkennen, lieber Gott,

trotz allem und gegen die widrigen Umstände die Ungarn bleiben immer noch Ungarn, dann ist das ein seltenes Wunder in der Weltgeschichte.

Mit einem Wort, wir dürfen unsere Beharrlichkeit – auch wenn wir darüber verwundert sind – nicht vergessen, denn sonst verharren wir in der Opferrolle und bekommen keine Vorstellung von unserer Zukunft.

Wenn ich überhaupt etwas dieser Nation vermachen könnte, dann eben die Tatsache, dass wir nicht bei den Tragödien der Vergangenheit stehen bleiben sollten, weil sich sonst eine falsche Identität ausformt. Aus dem Erleben einer Opferrolle entwickelt sich eine schamhafte Identitätsgrundlage, und auf so eine Basis kann man nicht aufbauen. Die Opferrolle geht mit einem Krampf einher und das macht uns aggressiv. In unserer Scham fürchten wir ständig, dass man uns in die Opferrolle zurückzieht, was keine Freiheit zulässt. Das Gefühl für die Freiheit beginnt dort, wo man die eigene Tragödie erkennt und gleichzeitig auch, welche depressiven, angstbeladenen und schamhaften Züge dadurch in mir entstehen, und ich mich in der Erkenntnis dieser Tatsachen dazu entschließe, dass ich daraus heraustreten und weitergehen möchte. Ich möchte, dass es mir klar wird, wer ich mit all diesen Gefühlen, aber auch gegen diese Empfindungen bin. Das ist ein Fokuswechsel. Und wenn wir in der Lage sind diesen Schritt zu tun, dann bleibt die Nation in diesem Land bestehen.

Viele von uns Ungarn aus Oberungarn (Slowakei) spüren, dass wir nirgends zu Hause sind. In Oberungarn versteht uns die Mehrheit der slowakischen Bevölkerung nicht, und im Mutterland nennen sie uns auch oft „Slowaken“, weil sie nicht wissen, wer wir in der Wirklichkeit sind.

Das Wichtigste, das wir dagegen tun können, ist, dass wir ein freies und vollständiges Leben führen. Aber dieses freie und vollständige Leben bedeutet nicht, dass wir uns alles ohne Maß leisten, uns in viele Erledigungen und Arbeit flüchten. Dieser Punkt zeigt nur genau, dass wir keine Freiheit besitzen. Das ist nur Schmerzbekämpfung. Wir müssen die Freiheit finden, in der wir durch Aktivität und mit Hilfe unserer Arbeit am ehesten zu uns finden. Damit wir nachher sagen können, dadurch und trotz dessen bin ich derjenige, der ich bin. Mit anderen Worten, ich sehe die Lösung in der Erhaltung und im Feiern des Lebens. Wir können nicht genug auf unsere Segnungen, Erfolge stolz sein, wir feiern unsere Ergebnisse nicht ausreichend, obwohl das die stärkste Kraft wäre, um unsere Identität zu stärken.       

Während wir das Leben weiterentwickeln, dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen, auch die daher rührenden Schmerzen nicht.

Die gesamte ungarische Nation ist voller Traumen, aber es gibt ein besonderes, ererbtes Schicksal der Ungarn im slowakischen Oberungarn, der Ungarn in der serbischen Vojvodina, der Ungarn in den ukrainischen Transkarpatien und im rumänischen Siebenbürgen.

Wie jedes kleine, familiäre Trauma individuell ist, so sind auch die Dramen der verschiedenen, abgetrennten Landesgebiete eigenständig. Wir alle haben unsere eigenständigen Schmerzen, die in jedem Menschen in der Weise vorhanden sind, dass die Außenstehenden diese nicht verstehen können. Selbstverständlich hat die Tatsache, dass ich in den Friedhof gehe und Blumen auf das Grab meiner Eltern lege, ihre Wichtigkeit. Die Erinnerung stärkt unsere Wurzeln. Aber das ist nicht genug. Man muss leben.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Botschaft erwähnen, die mein Vater – er war Psychiater und Neurologe – während des Jugoslawienkrieges in einem Vortrag erwähnte. Seither denke ich, dass diese Botschaft eine Botschaft für die abgetrennten Gebiete sein müsste. Gott sagt das dem in der Gefangenschaft von Babylon, in der Sklaverei lebenden Volk, also einer Nation in einem fremden Land, wo man sie nicht als Menschen achtet. Wie man meistens auch in den abgetrennten Gebieten die ungarischen Gemeinden nicht achtet.

„Baut Häuser, und wohnt darin, pflanzt Gärten, und esst ihre Früchte! Nehmt euch Frauen, und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Ihr sollt euch dort vermehren und nicht vermindern. Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.“

(Jeremia 29, 5-7)

Es wäre schön, wenn ich meine Heimat so lieben würde und darüber denken könnte, dass

diese Erde mein liebes Zuhause ist, auch dann, wenn darüber die slowakische Fahne weht, aber ich bemühe mich doch um das Wohl dieses Landes, um die Gesundheit meines hier lebenden Volkes, um einen Baum zu pflanzen und einen Garten zu pflegen.

Denn das Leben muss man erhalten.Es wird immer Leute geben, die das – wenn sie auf uns schauen – verstehen, und es wird immer andere geben, die diese Problematik aus einer abwehrenden Haltung, krampfhaft verspannt betrachten. Aber unsere Aufgabe liegt nicht darin, diese zu überzeugen. Unsere Aufgabe ist, mit denen, die das verstehen und mit uns eins sind, in Gemeinschaft zu leben. Wir sollten gemeinsam an dem Wohl der Stadt, des Landes, des Gebietes, wo wir leben, arbeiten.

Sowohl in der kollektiven, als auch in der persönlichen Erinnerung der ungarischen Minderheit in Oberungarn gibt es zahlreiche, geschichtlich bedingte Wunden und Traumen.

Die Vergangenheit blitzt ab und zu auf, wir müssen wissen, dass wir uns damit deshalb herumschlagen, weil die Realität der Vergangenheit mit der Wirklichkeit unseres Lebens verbunden ist, die wir nicht tilgen können. Aber wir müssen unterstreichen, dass wir nicht mit der Vergangenheit gleichgesetzt werden können. Trotz der Erinnerung sollten wir uns auf das Nach-vorne-Schauen fokussieren.

Unsere Zielsetzung muss sein, uns mit Leuten zusammenzutun, die mit erhobenem Kopf durch das Leben schreiten. Das erhobene Haupt verursacht einen geraden Rücken, und der erhobene Kopf bedeutet eine Freiheit ohne Scham. Er steht nicht für einen arroganten Stolz, sondern für Würde, Eleganz, Freiheit und für Zukunftsvisionen. Wenn wir diese Dinge in der Gemeinschaft zu erreichen in der Lage sind, dann wäre das eine Motivation auf einer Ebene, wie wenn zwei Menschen davon zu träumen beginnen, in welcher Weise sie ein Haus einrichten wollen.

Wer möchte zu einer schamhaften Gemeinschaft gehören?  Niemand, weil wir vor der Scham normalerweise flüchten. In einer Gemeinschaft voller Scham fühle ich mich als gekennzeichnet, niedergedrückt, ausgeraubt, gedemütigt. Da möchte ich nicht dazugehören.

Unsere Gemeinschaft muss schöpferisch sein, denn Gott erschuf uns als Schöpfer. Wir haben das edle Ziel zu finden, das uns vorwärtsbringt. Die gemeinsamen, edlen Ziele bedeuten die wahre Kraft des Zusammenhaltes, sie sind eine der starken, erhaltenden Kräfte unserer Beziehungen. I

In der Vergangenheit waren die Gemeinschaften, die gemeinsamen Ziele, stärker ausgeprägt, die Menschen waren eher bereit, Opfer für einander zu bringen, heutzutage sind aber die individuelle Karriere und der Wohlstand viel wichtiger für uns. Die Gemeinschaft muss also zu einem Erlebnis werden. Zu einem echten Erlebnis. Aber das gemeinsame Erleben wird nicht durch irgendwelche Sensationen erreicht, sondern durch das Gemeinschaftsgefühl. Viele irren sich darin, wenn sie eine Pizzaparty oder eine andere, große Party veranstalten, dass diese eine Gemeinschaft formt. Teilweise ist das zwar richtig, weil es schön ist, gemeinsam zu essen und uns wohl zu fühlen, aber das allein reicht nicht aus. Die wahre Gemeinschaft wird durch die Freude an der schöpferischen Arbeit erreicht, und darauf kann man – im guten Sinn – stolz sein. Die gemeinsame Schöpfung für einen edlen Zweck ist die stärkste Erhaltungskraft, die überhaupt existieren kann!

Was wäre, wenn wir sagen könnten, ich bin stolz darauf, ein Ungar aus Oberungarn zu sein? Wenn wir sagen könnten, dass unsere Verletztheit nicht in die Schmerzlinderung flüchtet, sondern daraus etwas Neues erschaffen wird? Und ich würde mich gegen den Mainstream, gegen den liberalen Westen, stellen und sagen, jawohl, wir sind stolz darauf, Ungarn aus Oberungarn zu sein!

Und ich würde eine Serie gestalten, in der ich zu zeigen in der Lage wäre, wie gut es ist ein Ungar aus Oberungarn zu sein. Der Titel dieser Serie wäre: „Wir haben den Segen als unser Erbe“. Ich würde mich auf die Schätze und nicht auf die Schattenseiten fokussieren. Die haben zwar auch ihre Berechtigung, aber die Freude genauso. Wenn ich meinen Kindern von ihren Großeltern und Urgroßeltern erzähle, sage ich ihnen immer: „Ihr solltet nie vergessen, dass ihr einen Segen ererbt bekommen habt!“ Und wenn wir uns also als Ungarn in Oberungarn – und auch die Ungarn in den anderen abgetrennten Gebieten – in der Weise betrachten könnten, dass wir den Segen ererbt haben, dann wäre das eine wunderbare Sache. Denn mit unserem ererbten Schicksal haben wir auch einen Segen geerbt, und zwar keinen geringen. Es gibt einen Grund, dafür dankbar zu sein.

Dr. Emőke Tapolyai ist Psychologin

Quelle MAGYARUL: Interview mit Emőke Tapolyai von János Méry undVeronika Pelle für ma7 https://ma7.sk/kavezo/tapolyai-emoke-aldast-orokoltunk

Deutsche Übersetzung von Dr. Gábor Bayor

Bildquelle: Károly Telepy Károly (1828-1906): Landschaft in Oberungarn mit einem Liebespaar, 1893

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