30. Dezember, 2020, Magyar Hírlap – von IRÉN RAB
Ungarn ohne Werte, so lautet der Titel eines Kommentars in der einst bessere Zeiten erlebt habenden, ehemals „konservativ-bürgerlichen“ Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 15. Dezember. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europaeische-grundwerte-in-der-ungarischen-verfassungsreform-17103771.html Es ist nicht der erste und auch nicht der letzte antiungarische Aufsatz in der deutschen Presse. Nicht nur die FAZ, sondern auch alle anderen sich selbst als „unabhängig“ bezeichnenden Medien fühlen sich irgendwie verpflichtet, ihre Leser über die ungarische Gefahr, die angeblich zunehmende autoritäre, illiberale Macht zu informieren. Den jetzigen Aufhänger liefert gerade die Änderung des Grundgesetzes: „Unter Berufung auf Souveränität und Mehrheitsprinzip dürfen niemals Grundrechte ausgehebelt und Menschen ausgegrenzt werden.“, – so das Verdikt deutscher Medien.
Mir fallen beim Begriff „Minderheiten“ zuallererst immer die indigenen nationalen Minderheiten ein. Solche Menschen, die ohne eigenes Verschulden über die nationalen Grenzen hinweg in die Obhut eines anderen Staates geraten sind. Deren Schicksal der große US-Präsident Wilson entschieden hatte, als er aus Washington an Europa die Nachricht sandte, dass alle Völker das Recht hätten zu wählen, unter welcher Autorität sie leben wollten. Im Geiste des amerikanischen demokratischen Prinzips – das war damals eine Form des Demokratieexports, – gerieten fünf Millionen Ungarn unter ausländische Hoheit.
Seitdem suchen sie dort ständig ihre Gleichberechtigung mit der Mehrheitsnation, aber sie finden sie auch nach hundert Jahren noch immer nicht. Und nicht nur sie, sondern etwa vierzig Millionen indigene europäische Bürger leben irgendwo in der Minderheit. Ihr Existenz und Rechte werden zwar durch den EU-Vertrag anerkannt, aber die Fähigkeiten der EU hören genau hier abrupt auf. Es stören offensichtlich die Begriffe indigen und national, sie seien in der modernen Welt verwerflich. Die dummen Ungarn verstünden die neuen Lieder der neuen Zeit, sowie die Wichtigkeit der pilzartig sprießenden neuen Arten von Minderheiten und die Bedeutung der Toleranz für die bunte Genderwelt einfach nicht. Sie steckten in veralteten christlichen Werten wie Familie, Nation, Glaube fest und verachteten auf diese komische illiberale Weise alle, die im Gegensatz zu ihnen ihre eigene Vergangenheit bereits endgültig ausgelöscht haben.
Die Qualifikation als Land ohne Werte hat mich tatsächlich außerordentlich empört. Ich weiß, dass der Titel eines Artikels sehr wichtig sei, denn er sei das, was das Interesse am Thema wecke, und die Leute werden – zumindest behaupten es die Medien, – von negativen Nachrichten, Katastrophen, Attentaten, Morden angezogen, von Dingen, die aus dem Üblichen herausstechen, welche den Leser aus seiner Komfortzone herauskatapultieren, worüber man sich echauffieren kann. Womit man die eigenen, täglichen Misserfolge, die Frustrationen abreagieren kann.
Der durchschnittliche deutsche Bürger kann durch den Geist einer rechten Diktatur am besten erschreckt werden, dazu gibt es sofort den Sündenbock frei Haus, immer wieder die Ungarn, und das Sperrfeuer richtet sich nun gegen Viktor Orbán. Um bei der FAZ zu bleiben, hier einige Titel aus dem vergangenen Monat: „Orbáns antiliberales Weltbild”, „Antisemitismus in Ungarn”, „Soros muss dahinterstecken”, „Warum Ungarn noch alimentieren?”, „Staatsstreich gegen die Demokratie”, „Rechtsstaatlichkeit ist nicht verhandelbar”, „Ungarn verstößt gegen Asylrecht”, „Gehören die Ungarn noch dazu?”. Und vergessen wir nicht, die Munition für diese Artikel liefern ausschließlich nach ihrer eigenen Auffassung die ungarischen linksliberalen Vorbeter. Es ist etwa so, als würde Deutschland in Ungarn nur durch die Brille der AfD oder der Linke betrachtet werden.
Für jeden Tag ein neuer Schlag: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die Transitzone und die Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen, dann gibt es noch den Fall Szájer, das Veto- und das Rechtsstaatsmantra des Europäischen Parlaments, diese haben der Presse wochenlang genug Munition geliefert, und dann der Zirkus um den verunglückten Ausdruck vom EP-Abgeordneten, Tamás Deutsch. Er darf ja nicht über die Gestapo reden, aber der ungarische Ministerpräsident darf jederzeit lässig mit Hitler verglichen und in Kabarettsendungen mit Dreck beworfen werden. Die deutschen Gemüter werden mit der Änderung der ungarischen Verfassung beunruhigt, damit die Leser das vom Bundestag gerade verabschiedete dritte Infektionsschutzgesetz, das grob in die Grundrechte eingreift, geflissentlich übersehen.
In diesem Jahr war Ungarn in den Nachrichtensendungen beim Deutschlandfunk 331 mal an der Reihe, fast jeden Tag wurde ein Ei gelegt. In 57 dieser Interviews haben sich deutsche linke Politiker und deutschsprachige ungarische Landsleute in der Prime-Time ausführlich über den Stand der Entwicklung der Orbán-Diktatur geäußert. Wenn nötig, reden sie über die gewaltsame Einführung der nationalen Schulrahmenpläne oder über den Kulturkampf der Schauspielerstudenten oder die Schließung des Nachrichtenportals Index. Ich weiß nicht, wie sehr sich der deutsche Bürger für die Innenpolitik Ungarns in dieser Tiefe interessieren mag, aber wenn er nur solche Dinge hört, ändert sich allmählich sein Bild von Ungarn.
Man wacht morgens auf, schaltet das Radio ein. Dann hört man von der sozialistischen Europaabgeordneten Barley, dass Orbán sich seine Taschen mit EU-Geldern vollstopft. Oder der SPD-Versager Martin Schulz posaunt, er habe genug vom autoritären Regime in Budapest, das wolle nur Geld, halte die Hand auf, aber wenn etwas von ihm verlangt werde, drohe es sofort mit Erpressung. Bei manchen bleibt das morgendliche Brötchen im Hals stecken oder man schneidet sich beim Rasieren, während man eine solche Äußerung hört. Einige Leute hingegen schlagen mit der Faust auf den Tisch und schreien mit Schulz zusammen, dass man von den Ungarn die Schnauze voll hat! Dieses renitente Land muss bestraft werden!
Warum eigentlich? Weil es seine Arbeit verrichtet, seine Wirtschaft aufbaut, seine eigenen und gleichzeitig die europäischen Grenzen sowie die christlichen Werte schützt? Vor vier oder fünf Jahren, als Folge des Migrationsschocks, lobten die meisten Leserkommentare Orbán und seine ungarische Lösung des Grenzschutzes. Das Krisenmanagement Orbáns fand bei den meisten Deutschen Anerkennung. Als ich die jüngsten Kommentare las, wurde ich traurig und betroffen, denn ich musste feststellen, dass die systematische Gehirnwäsche ihr Ziel erreicht hatte. Obgleich es durchaus sein könnte, dass inzwischen die Zensur besser funktioniert und sorgfältige Moderatoren die nicht erwünschten Eintragungen entfernen.
Kein Land hat in Deutschland so viel Medieninteresse wie Ungarn. Wir könnten stolz auf unsere Popularität sein, wenn sie einem guten Zweck diente. Wenn sich jedoch die mehr als 6.000 deutschen Unternehmen endlich aus dem Hintergrund herauswagten und öffentlich wiederholt und laut genug mitteilen würden, warum sie nach Ungarn kommen und wie viel sie von uns profitieren. Wenn sie allen klar machen würden, dass Ungarn ein verlässliches wirtschaftliches Umfeld biete, mit billigen und qualifizierten Arbeitskräften, und dass sie den deutschen Haushalt mit einem Großteil ihrer jährlichen Gewinne bereichern! Dass Großinvestoren es weiterhin wagen, ihre hochmodernen Fabriken hierher zu bringen, weil hier politische Stabilität und Berechenbarkeit herrschen. Wenn die Fachleute endlich reden würden und es keinen parteipolitischen Interessenkampf in der europäischen Medienszene gäbe…
Warum schmerzen wir euch? -könnten wir fragen. Warum? Weil wir Ungarn gleichberechtigt unter Gleichen sein wollen und unser Streben nach nationaler Souveränität einfach nicht gefällt? Dort, in den westlichen Demokratien, fürchten die Leute aus historischen Gründen alles, was von rechts kommt. Denn die nazibraune, faschistische Diktatur wurde als Nationalismus in ihre Gehirnwindungen gebrannt. Wir hier, östlich von der Elbe, haben ganz andere historische Erfahrungen. Hier wird Nationalismus als Heimatliebe wahrgenommen, die seit Jahrhunderten unsere Beschützerin ist, unser Schlüssel zum Überleben.
Wir haben die linke, rote, kommunistische Diktatur erleben müssen. Und jetzt wollen sie uns diese kurzerhand umbenannte Ideologie in einer anderen Farbe verpackt auf die Augen drücken. Dort, im Westen, erkennen sie es nicht, weil sie es nicht wissen und auch nicht verstehen wollen, dass die in westlichen Schlagzeilen gefeierte Oppositionskoalition gegen Orbán ein Bündnis der Enkel der kommunistischen Obergenossen ist. Es ist, als würden braune Nazi-Enkel eine Anti-CDU-Koalition von extrem rechts bis extrem links schmieden. Was würde man dort dazu sagen?
https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20201230-miert-fujunk-mi-maguknak Übersetzung: Andrea Martin
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