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Verbleiben

3. Oktober 2023 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Wir sind Slowaken, sagte Tante Annus in ihrem typischen Palóc/Oberungarn-Dialekt. Tante Annus lebte in Rapovce, in der (Tschecho-)Slowakei. Im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte war Rapovce fast ausschließlich ein rein ungarisches Dorf, genannt Rapp. Nach dem Ende der hundertfünfzigjährigen türkischen Besatzung Ungarns (1526-1686) wurde das Dorf entvölkert und dann von Ungarn neu besiedelt. Die Grenze vom Trianon-Diktat 1920 wurde am Rande des Dorfes gezogen und Rapp wurde zu Rapovce. Die Eltern von Tante Annus waren Ungarn von der anderen Flussseite, sie wuchs in Ipolytarnóc auf und heiratete einen Eisenbahner aus Rapp. Das waren die Zeiten, als Rapp mit Ungarn wiedervereinigt (1939-1945) wurde. Annuschkas Familie lebte glücklich, die Eisenbahn sorgte für ein Haus, ein kleines Ackerland, für den Lebensunterhalt und ihr Mann als Eisenbahner wurde nicht in den Krieg geschickt. Sie gingen oft in ihr Heimatdorf nebenan zu Besuch, wo ihre Eltern und alle ihrer drei Geschwister lebten.

Irgendwann am Kriegsende musste man sich zu seiner Identität bekennen. „Wir sind Ungarn„, sagte sie leichtsinnig, denn sie sagte es zum falschen Zeitpunkt und gefährdete damit seinen Job bei der Eisenbahn, seine erhoffte Rente, die medizinische Versorgung und die gesamte Existenz der Familie. Das war nach dem Krieg, und die Schrecken waren in diesem ansonsten geborgenen ungarischen Dorf im Tal des Ipoly-Flusses kaum spürbar. Sie waren einfache Leute, die wenig von der Welt wussten. Sie waren nicht in Viehwaggons umgesiedelt worden, um dort die aus dem Sudetenland vertriebenen Deutschen zu ersetzen, aber

als sie das nächste Mal gefragt wurde, ob sie Slowakin oder Ungarin sei, antwortete sie rasch: Wir sind Slowaken.

Das sagte sie ungarisch, weil sie die slowakische Sprache nicht beherrschte. Also wurde sie Slowakin und fügte ihrem ungarischen Namen das -ova hinzu, um zu zeigen, wo sie hingehörte.

Und so wurden viele Ungarn plötzlich zu Slowaken. Der Prozess hatte einen Namen: Reslowakisierung, d. h. um dem tschechoslowakischen kommunistischen Regime zu entsprechen, war es die Rückkehr zu ihren „ursprünglichen“ slowakischen Wurzeln. (Die es nie gab.)

Ich gehe gerne auf Friedhöfen spazieren, weil die Grabsteine von der Vergangenheit erzählen. Auf dem Friedhof von Rapp gab es in den 1980er Jahren fast ausnahmslos ungarische Grabsteine, der Familienname und der Vorname und in den meisten Fällen auch die typisch ungarische Reihenfolge zeugten von der Nationalität der Dorfbewohner. Heute sind auch hier slowakische Grabsteine an die Stelle der alten ungarischen Gräber getreten. Ich weiß nicht, in welcher Sprache der Name von Tante Annus, die ihre wahren Vorfahren verleugnend Slowakin wurde, auf ihrem Grabstein steht.

In den letzten hundert Jahren wurden viele Tricks ausgeheckt, um die einheimische ungarische Bevölkerung zu eliminieren, mit anderen Worten, einen gesetzlich verankerten slawischen Nationalstaat zu kreieren. Mit dem 33. Dekret des Präsidenten Eduard Beneš wurden den einheimischen Ungarn die Staatsbürgerschaft, die Renten und die Arbeitsplätze entzogen. Er verbot den Gebrauch der ungarischen Sprache im öffentlichen Leben, schloss ungarische Studenten von den Universitäten aus, löste ungarische Kulturvereine auf und fror die Bankguthaben der Ungarn ein. Ihre beschlagnahmten Grundstücke und Häuser wurden mit Tschechen und Slowaken besiedelt. Sie vertrieben auch die der Kollektivschuld bezichtigten Deutschen und machten die Ungarn staatenlos in ihrem eigenen Land.

Es gab den Druck der Reslowakisierung, der die Ängstlicheren oder diejenigen, die einfach nur weiterleben wollten, auf die (tschecho-)slowakische Seite stellte, es gab die Deportation in Viehwaggons, es gab den Raub von Eigentum und Lebensunterhalt, und dann kam der Bevölkerungsaustausch. Bei letzterem wurden fast neunzigtausend Ungarn in ein zerstörtes Ungarn verfrachtet. Dann wurden Verwaltungsgrenzen und Wahlbezirke neu festgelegt. Die Wahlbezirke wurden in Nord-Süd-Richtung gezogen, wodurch sich das Nationalitätenverhältnis änderte und die ungarischen Regionen durch Slowaken verwässert wurden (heute plant die slowakische Legislative etwas Ähnliches, im Rahmen der sog. Gemeindereform).

Man könnte die Versuche aufzählen, einen (tschechoslowakischen) slawischen Nationalstaat zu schaffen, aber der bizarrste Teil der Geschichte ist der, als die antinationalistischen Kommunisten den Ungarn die grundlegenden Menschenrechte, Schulen, Kirchen, die Möglichkeit, Ungarisch zu lernen und in ihrer Muttersprache zu kommunizieren, auch noch wegnahmen.

Die Ungarn im ehemaligen Oberungarn werden eigentlich von ständiger Angst geleitet. Auch heute noch, dreißig Jahre nach der Gründung der Slowakei und zwanzig Jahre nach dem Beitritt zur EU. Immerhin sind die Beneš-Dekrete von 1945 noch Teil der slowakischen Rechtsordnung, was in Brüssel komischerweise keine rechtsstaatlichen Bedenken auslöst. Wenn ich mir die Politiker im Europäischen Parlament ansehe, wundert mich das nicht. Sie haben wahrscheinlich noch nie von der – gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßenden – kollektiven Entrechtung der Deutschen und Ungarn gehört. Sie haben keine Ahnung, dass dies und nicht die Probleme der LGBTQ-Gemeinschaften die vollständige Entmündigung von Menschen bedeutet.

Wenn man nachdenkt, leben fast eine halbe Million Ungarn in der Slowakei, als Kollektivschuldige für die Zerstückelung der Tschechoslowakei 1938 (aber niemand in der Welt ist schuldig an der Trianon-Zerstückelung des tausendjährigen Ungarns, wir müssen immer alles verzeihen). 

Der slowakische Staat sollte endlich anerkennen, dass die Anwesenheit einheimischer Ungarn nicht gegen die Interessen der Slowakei gerichtet ist. Und in der slowakischen Legislative wird es nach diesen Wahlen vier Jahre lang wieder niemanden geben, der dieses Thema aufgreift.

In hundert Jahren hat sich die Zahl der Ungarn in der Slowakei halbiert. Setzt man die natürliche Zunahme in eine mathematische Formel, so ist dieser Rückgang tatsächlich noch viel größer. Tragisch groß. Die Ungarn in der Slowakei sind so oft gebrochen, verkrüppelt und betrogen worden, dass sie an niemanden mehr glauben und niemandem mehr vertrauen. Versuchen wir nicht, ihnen zu sagen, was und wie sie es hätten anders machen sollen.

Diejenigen, die nie in einer Minderheit gelebt, keine Ungerechtigkeit erlebt haben, die nicht verfolgt wurden, nur weil sie Ungarn sind, sollten nicht über diejenigen urteilen, die davon stark betroffen wurden.

Es ist schwierig, von hier aufzustehen und erneut neu anzufangen. Die Welt ist nämlich dabei, eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Gehen Sie weg, ziehen Sie weiter, wenn es Ihnen nicht gefällt, versuchen Sie Ihr Glück woanders! Diene nicht der Gemeinschaft, sei nur du selbst. Wozu eine Muttersprache haben, wenn sie sonst niemand versteht? Was bedeutet Heimat, die ungarische Landschaft, wenn alles einen slowakischen Namen hat? Wenn die slowakischen Nationalisten dich krankenhausreif schlagen, wenn du ungarisch sprichst, die ungarische Inschrift abreißen, dir verbieten, deine Nationalhymne zu singen. Wenn in Pozsony (Bratislava), in der ungarischen Krönungsstadt, in der vierhundert Jahre lang ungarische Könige gekrönt wurden, nichts mehr das Gedenken an die Ungarn verkündet.

Kürzlich diskutierten die Leiter der vier historischen Kirchen – der reformierten, der katholischen, der unitarischen und der lutherischen – in Kolozsvár (Klausenburg/Cluj-Napoca, Siebenbürgen) die Ergebnisse der rumänischen Volkszählung. Die Zahl der Gläubigen geht überall zurück, und auch die ungarische Bevölkerung, die noch gerade eine Million erreicht, nimmt ab. Die Kirchenführer in Siebenbürgen sind der Meinung, dass sie alles tun müssen, um die Zahl der Gläubigen in ihren Gemeinden zu erhöhen, aber sie sind sich auch darin einig,

dass ihre wichtigste Aufgabe darin besteht, die Ungarn in Siebenbürgen zu halten. Die Vertretung der Interessen der Ungarn habe Vorrang vor den Interessen der Kirchengemeinden. Wir müssen uns zusammenschließen und uns gegenseitig helfen, so die Bischöfe.

Und die Zusammenarbeit hat bereits begonnen.

Wenn wir Ungarn überleben wollen, können wir keine Hilfe von anderen erwarten. Wir gehören nicht zur Großfamilie irgendeines Volkes, weder der slawischen, noch der lateinischen, noch der germanischen. Wir sind mit unserem Anderssein in der Geschichte unterwegs. Das war schon immer so und wird sich auch nicht ändern. Die klare Botschaft der Wahlen in der Slowakei lautet: Wenn wir überleben wollen, müssen sich alle Ungarn zusammenschließen, denn die Interessen der Ungarn werden außer von uns nirgendwo, von niemandem vertreten.

Autorin, Dr. phil Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzun g von Dr. Andrea Martin

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20231003-megmaradas

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