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Ungarn ist für Frieden – Podiumsdiskussion mit Viktor Orbán in Berlin

11. Oktober 2022 Cicero von Ulrich Thiele

Viktor Orbán steht für seine Ungarn-First-Politik seit Jahren in der Kritik Westeuropas. Am Dienstag (11.10), war Ungarns Ministerpräsident während seines Deutschlandbesuchs für eine einstündige Podiumsdiskussion mit Alexander Marguier, Cicero-Chefredakteur und -Herausgeber, und Holger Friedrich, Verleger der Berliner Zeitung, im Berliner E-Werk zu Besuch. „Sturm über Europa – der Ukrainekrieg, die Energiekrise und geopolitische Herausforderungen“ lautet der Titel einer neuen Reihe, deren Auftakt die Diskussion mit Orbán bildete. Sie sprachen über den Völkerrechtsbruch in der Ukraine, die EU-Sanktionen gegen Russland – und darüber, wie der Krieg aus Orbáns Sicht beendet werden kann.
DAS PODIUMSDISKUSSION AUF DEUTSCH
Kriegslager und Friedenslager

Als Jurist stehe für ihn völlig außer Zweifel, dass Russland das internationale Völkerrecht gebrochen habe, deswegen stehe Ungarn klar auf der Seite der Ukraine, so Orbán. Er halte es jedoch für ein „immenses Problem“, dass man es bisher nicht geschafft habe, diesen Konflikt zu isolieren. Woraufhin er zu einer Lobrede auf Ex-Kanzlerin Angela Merkel ansetzte: Er habe migrationspolitisch harte Konflikte mit Merkel ausgefochten, doch wie die damalige Kanzlerin 2014 in der Krim-Krise agiert hat, sei ein „diplomatisches Meisterwerk“ gewesen. Denn Deutschland sei umgehend in Verhandlungen mit Russland getreten und habe so den Konflikt isoliert, sodass er ein russisch-ukrainischer Konflikt geblieben sei. „Deswegen: Danke, Angela!“, so Orbán. 

Beim jetzigen Krieg habe aber niemand versucht zu verhandeln, weshalb der Konflikt jetzt ein internationaler sei, im Zuge dessen niemand frage, was das Interesse von Ländern wie Ungarn ist. „Ich bin nicht bereit, den Ukrainern so zu helfen, dass ich Ungarn dabei wirtschaftlich zugrunde richte und dass Ungarn sterben“, so Orbán. Es gebe zwei Lager in Europa:  Das Kriegslager und das Friedenslage. „Ich gehöre zum Friedenslager, deswegen bin ich für eine sofortige Feuerpause – egal, was die Ukrainer davon denken. Das unterscheidet mich von denen, die Entscheidungen aus ukrainischen Interessen ableiten wollen.“ Ob es mit Merkel nicht zum Krieg gekommen wäre, wollten die Moderatoren wissen. Orbáns knappe Antwort: „Mit Sicherheit.“ 

Orbán Berlinben a Cicero című nyílt beszélgetésen vett részt (videó hossz 57:43)
„In der Energiefrage sind wir Zwerge“  

Orbáns Programm lässt sich unter dem Motto „Ungarn first“ zusammenfassen. Alles andere, so Ko-Moderator Holger Friedrich, wolle er rechts und links liegen lassen. Aber Ungarn gehört zur EU. Ob Orbán nicht eine Politik zulasten der europäischen Perspektive betreibe, wenn er, wie zu Beginn des Krieges, schon früh in Verhandlungen über Energielieferungen getreten sei, obwohl Brüssel für ein europäisch geschlossenes Auftreten in puncto Sanktionen gegenüber Russland plädiert habe? 

Orbán blieb beim Ungarn-First-Standpunkt: Es gebe keine europäische Perspektive, aus der sich nationale Interessen ableiten ließen. Sondern andersherum bilde sich die europäische Perspektive aus einer Bündelung nationaler Interessen. Die Sanktionen der EU-Kommission  seien „katastrophal“. Nicht die Sanktionen an sich, sondern die „primitive Weise“, auf die sie umgesetzt würden. Das Hauptargument für die Sanktionen sei aber durchaus schlüssig, merkte Moderator Alexander Marguier an: Man wolle eben Russlands Krieg nicht finanzieren. Was Orbán sich denn unter einem intelligenten Sanktionsregime vorstelle, das Deutschland und Russland nicht schade? Eine konkrete Antwort blieb der ungarische Ministerpräsident schuldig. 

Stattdessen führte er aus, warum die Sanktionen primitiv seien: „Wir wollten die Russen nicht finanzieren, aber tatsächlich finanzieren wir sie.“ Russland habe in einem halben Jahr 158 Milliarden Euro verdient, die Hälfte davon komme aus Europa. Man dürfe eben nicht nur die Menge an Rohstoffen berücksichtigen, sondern auch deren Marktpreise. „Wenn die Preise steigen, verkaufen die Russen zwar weniger Gas, aber sie verdienen trotzdem mehr Geld.“ Sanktionen lohnten sich nur dann, wenn man der Stärkere sei. „In der Energiefrage sind wir Zwerge, die Russen hingegen Riesen. Ein Zwerg sanktioniert den Riesen und wundert sich dann, warum es nicht funktioniert.“ 

„Wir würden einfach nur das Herrchen wechseln“ 

Allerdings will Russland nach eigener Aussage den Westen destabilisieren. Ob Russland überhaupt wieder Gas liefern würde, sollten die Sanktionen aufgehoben werden, darf also bezweifelt werden. Was ihn so sicher mache, dass Russland ohne Sanktionen Gas liefern würde, wollte Marguier folglich vom ungarischen Regierungschef wissen. „Ich schlage nicht vor, die Sanktionen aufzuheben, sondern sie neu zu schnitzen“, entgegnete Orbán. 

Zumal es nicht im europäischen Interesse sei, die russische Abhängigkeit gegen amerikanische zu tauschen. Das möge für uns bequemer sein, so Orbán, weil die USA im Gegensatz zu Russland demokratisch sind. „Doch wir würden einfach nur das Herrchen wechseln.“ Europa brauche vier oder fünf verschiedene Anbieter, um unabhängig zu sein. 

„Feuerpause, sofort“ 

In den derzeitigen tektonischen Verschiebungen der Geopolitik sieht Orbán den Westen so schwach dastehen wie noch nie. Ihm selbst werde vorgeworfen, mit seiner Politik ein trojanisches Pferd Putins zu sein. Doch ein großer Teil der Welt – Indien, afrikanische Länder – hätten ebenfalls nicht mitgemacht, als die USA zum Bündnis gegen Russland aufriefen, so Orbán. 

Ein solches Ignorieren der USA hätte es in früheren Zeiten nicht gegeben. „So schwach waren wir global noch nie“, sagte Orbán. Deswegen: „Feuerpause, sofort“, wiederholte er, „sonst werden Zigtausende sterben, und der Krieg wird nach Europa getragen.“ Der Papst, Henry Kissinger und Jürgen Habermas seien schließlich auch für eine Feuerpause „statt langfristiger Rechthaberei“. 

Aber worüber solle überhaupt verhandelt werden, wollte Marguier wissen. „Es wäre besser, wenn die Öffentlichkeit nicht hört, was ich jetzt sage“, setzte der Ministerpräsident an: „

Die Feuerpause muss nicht zwischen Russland und der Ukraine zustande kommen, sondern zwischen Russland und den USA.“ Der Krieg bleibe hinsichtlich des Ausgangs nur offen, weil die Ukraine externe Ressourcen – Waffen, Informationen – aus den USA bekommen. Den Krieg könnten also nur die USA in Verhandlungen mit Russland beenden.

„Deswegen ist Joe Biden mit seinen Äußerungen über Putin zu weit gegangen. Die Hoffnung für den Frieden heißt Donald Trump.“ 

„Macron hat recht: Man muss für strategische Unabhängigkeit einstehen.“ 

Das klinge ein bisschen nach 19. Jahrhundert, so Marguier: Als stünden zwei Großmächte über einen großen Tisch mit Weltkarte gebeugt und verhandelten über die Aufteilung der Welt. Welche Rolle denn die Ukraine in diesem ganzen geopolitischen Spiel dann einnehmen solle? „Es gibt ein größeres Problem“, entgegnete Orbán. Vorher müssen man nämlich die Frage stellen, welche Rolle Europa denn spielt. 

Europa habe nach dem Zweiten Weltkrieg seine Souveränität verloren. Dass es zu keinem weiteren Krieg gekommen sei, habe nicht an der EU gelegen, wie so gerne gesagt wird. Sondern einzig und allein daran, dass die USA und die Sowjetunion sich geeinigt hätten. Nach dem Mauerfall habe die große Chance bestandenen, die Souveränität zurückzugewinnen. Kanzlerin Merkel habe dieses Souveränitätspotenzial in der Krim-Krise gezeigt. Doch jetzt drohe die Gefahr, dass Europa wieder außen vor bleibt, denn es gebe keine europäische Sicherheitsstruktur, sondern nur die Sicherheitsstruktur der NATO „Macron hat recht: Man muss für strategische Unabhängigkeit einstehen. Sonst kommt eine neue Sicherheitslage, die von den USA und Russland vereinbart worden ist.“ 

Allerdings steht Orbán selbst in Osteuropa mit seinen geopolitischen Positionen derzeit recht allein da, weil die Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) in geopolitischen Fragen auseinanderdriftet – Beispiel Polen. „Das war schon immer so: Wir haben ein brüderliches Verhältnis zu Polen, aber in geopolitischen Fragen sind wir historisch bedingt nicht einer Meinung. In Fragen des Nationalstolzes, des Familienkonzepts und der Genderpolitik hingegen geht eine Trennungslinie durch Europa.“ Östlich dieser Linie sehe man Migration eher als Gefahr denn als Bereicherung. „Für Deutsche klingt das sicherlich grauenhaft, aber östlich dieser Linie ist der Nationalstolz eine wichtige Antriebskraft.“ Diese Sicht werde von Progressiv-Liberalen ständig attackiert, deswegen sei es so wichtig, dass die Visegrád-Gruppe geschlossen auftrete und für konservative Werte einstehe. 

„Ursprung allen Übels“ 

Das sei aber schwieriger geworden, und der „Ursprung allen Übels“ diesbezüglich sei der Austritt der Briten aus der EU. Die Briten hätten zusammen mit der Visegrád-Gruppe den EU-Föderalismus nicht hingenommen. Mit dem Brexit sei das Gleichgewicht verloren gegangen, und nunmehr seien die Föderalisten aus Paris, Berlin, Brüssel und anderswo in der Überzahl. „Jetzt gibt es Dinge wie den Schuldenausgleich, die nationale Interessen aushebeln“, so Orbán. „Man wird uns Dinge aufzwingen, die wir nicht wollen.“ 

Nach 1990 hätte sich eine Politik der Berücksichtigung von Minoritäten ausgeweitet, hielt Holger Friedrich entgegen. Und zwar nicht nur in Fragen der sexuellen Identität, sondern auch bezüglich der Interessen von kleineren Ländern. „Ungarn hat maximal davon profitiert und stellt diese Berücksichtigung von Minoritäten nun maximal in Frage.“ Ob die Ukraine nicht auch davon profitieren solle, wollte Holger Friedrich wissen. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, gute Frage!“, so Orbáns Replik. 

Zunächst gehöre aber die ukrainische Position verstanden. Und die Ungarn verstünden sie am besten. „Es wird über Butscha gesprochen, aber 1956 hieß Butscha Budapest“, fügte er mit Blick auf den von der Sowjetunion niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand hinzu. „Unser Selensky wurde gehängt nach der Revolution. Uns muss man nicht erklären, wie brutal ein russischer Krieg sein kann. Das meiste, was wir jetzt tun können, ist aber die Feuerpause.“ 

Gespräch mit Scholz sei „sehr aufregend“ gewesen 

Konkrete Vorstellungen, unter welchen Bedingungen der Krieg zu Ende gehen könnte, konnte der ungarische Ministerpräsident nicht geben. „Ich habe keine hochtrabenden intellektuelle Ambitionen. Lieber 100 Stunden erfolglose Verhandlungen als ein Gewehrschuss. Wir werden während Verhandlungen sehen, was passiert. Einen konkreten Plan gibt es noch nicht.“ Sein Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz am Vortag bezeichnete Orbán dagegen als „sehr aufregend“: „Scholz versteht Dinge schnell und umfassend, man kann sich gut mit ihm unterhalten. Dass ich nichts erreicht habe, ist eine andere Frage. Aber die Verhandlung selbst war dennoch gut, und ein Ungar weiß das zu schätzen.“ 

Angela Merkel habe seine „Toleranzangebote“, also die ungarische Perspektive zu tolerieren, stets abgewiesen. Ihr Amtsnachfolger Scholz habe sich Orbáns Standpunkt angehört, aber weder abgelehnt noch befürwortet. Auch ihn habe Orbán gefragt: „Warum lassen Sie nicht zu, dass Ungarn denkt, was es aufgrund seiner Geschichte denkt? Wir haben keine Multikulti-Gesellschaft, und ich verstehe nicht, warum wir das anders machen sollten? Wir fühlen uns wohl.“ Er könne den kommenden Generationen kein Land übergeben, das Direktiven aus Brüssel entgegennehmen müsse. Ebenso, wie er kein überschuldetes Land hinterlassen wolle. 

„Das nationale Gefühl ist so stark in Ungarn. Wenn du nicht frei bist als Nation, bist du nicht frei als Individuum“, lautete Orbáns Fazit,

der sich wegen seines umstrittenen Homosexuellen-Gesetzes einem starken Druck aus Westeuropa ausgesetzt fühlt. Er sei aber nicht nach Deutschland gekommen, um sich zu beklagen. Denn: „Von Merkel habe ich gelernt: Wer sich beklagt, ist schwach.“ 

Autor, Ulrich Thiele ist Redaktionsmitglied bei Cicero  

Originalerscheinung: https://www.cicero.de/aussenpolitik/cicero-podiumsdiskussion-mit-victor-orban-hoffnung-fur-den-frieden-heisst-donald-trump

Bildquelle: https://miniszterelnok.hu

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