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Paneuropäisches Picknick bei Sopron

19. August 2022 Konrad Adenauer Stiftung, von BENCE BAUER

In Sopron, an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich wurde am 19. August 1989 europäische und deutsche Geschichte geschrieben. An diesem Tag überschritten mehr als 600 Menschen aus der DDR im Rahmen eines Paneuropäischen Picknicks erstmals friedlich den Eisernen Vorhang. Die Nachrichten über dieses Ereignis verstärkten den anwachsenden Massenexodus von Deutschen aus der DDR, und dies führte zu einer erheblichen weiteren Destabilisierung des SED-Regimes. Das Paneuropäische Picknick war insofern ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit. Im Grunde genommen beruhte die nachhaltige und erfolgreiche Wirkung des Picknicks aber auf einer glücklichen Verkettung von Ereignissen und dem zufälligen Zusammentreffen von unterschiedlichsten Akteuren und Interessen.

Abbau des Eisernen Vorhangs

Die Einführung des sogenannten Weltpasses für ungarische Staatsangehörige Anfang 1988 setzte einen regen Reiseverkehr in Gang, da die Ungarn nunmehr in jedes Land der Welt reisen konnten. Die Zahl illegaler Grenzübertritte durch ungarische Bürger nahm rapide ab, bereits 1988 wurden 98 Prozent dieser Vergehen von Angehörigen anderer Ostblockländer begangen. Der Eiserne Vorhang hinderte also nicht mehr die Ungarn, gen Westen zu gehen, sondern vor allem Ostdeutsche.

Darüber hinaus war der Beitritt Ungarns zur Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen mit Wirkung vom 12. Juni 1989 ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Abbau des Eisernen Vorhangs. Die ungarische Regierung wollte auf diese Weise geflüchtete Landsleute vor einer Abschiebung in das diktatorische Rumänien Ceauşescus bewahren. An mögliche in Ungarn ausharrende ausreisewillige Ostdeutsche hatte man beim Beitrittsgesuch im März 1989 keineswegs gedacht. Dieser Rechtsakt eröffnete aber später auch die Anwendbarkeit auf DDR-Staatsangehörige „im Geiste der Konvention“.

Der Abbau der Grenzbefestigungsanlagen erfolgte ab dem 2. Mai 1989, da die ungarische Regierung nicht bereit war, erhebliche Summen in die Sanierung von Grenzanlagen zu investieren, die das Land nicht mehr brauchte und wollte.

Diese Initiative war auch der Versuch, einen engeren Austausch mit dem Westen zu wagen, vor allem mit dem Nachbarland Österreich.

Idee und Organisation

Die Idee des Paneuropäischen Picknicks wurde am 20. Juni 1989 in Debrecen geboren, der Stadt, in der während der Ungarischen Revolution am 14. April 1849 symbolträchtig die Entthronung des Hauses Habsburg verkündet worden war. Otto von Habsburg war von dortigen Oppositionellen eingeladen worden, um einen Vortrag über Europa nach den Europawahlen 1989 zu halten. Habsburg engagierte sich während seiner Zeit als Mitglied des Europäischen Parlaments in Straßburg immer wieder nicht nur im Sinne der bayerischen CSU, sondern auch für die Interessen der unterdrückten, sich in einem freien Europa nicht artikulationsfähigen Völker Mittel- und Osteuropas, besonders der Ungarn. Nach dem Vortrag saßen die Organisatoren mit Habsburg zusammen, und es entwickelte sich unter Federführung von Ferenc Mészáros spontan die Idee, dass

eines Tages in einem zusammenwachsenden Europa an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich Menschen aus beiden Nationen Speck braten und ein „Paneuropäisches Picknick“ mit Musik und Tanz veranstalten könnten.

In der Folge trieb Mária Filep vom örtlichen Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) dieses Vorhaben energisch voran. Der Titel „Paneuropäisches Picknick“ wurde nach Aussagen der Organisatoren ohne Bezug zu der Organisation Paneuropa-Union gewählt, da diese in Ungarn gar nicht bekannt gewesen sei. Über die Bezeichnung kam es später zu einem Konflikt mit der Paneuropa-Union, da diese beanspruchte, Veranstalterin des Picknicks gewesen zu sein. Mária Filep jedoch hatte zu jener Zeit alle Hände voll zu tun: Sie musste einen Ort finden, die Genehmigung für den provisorischen Grenzübergang einholen, Menschen einladen, Mitstreiter finden und natürlich Finanzmittel auftreiben. Es war ein glücklicher Zufall, dass sie Mitte August Oppositionelle aus den mittelosteuropäischen Ländern in Ungarn bei einer informellen Sommerschule, dem sogenannten Schicksalsgemeinschaftslager in Martonvásár, zu Gast hatte, die sie spontan zu dieser Unternehmung an der Grenze als Abschlussveranstaltung der Zusammenkunft einlud.

Die Suche nach einem geeigneten Ort erwies sich als eine echte Herausforderung. Schließlich fanden die Debrecener in Sopron mit Vertretern der örtlichen Gruppe der Oppositionspartei Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), László Magas, László Nagy, János Rumpf, Felix Őrs und Pál Csóka engagierte Mitstreiter. Sopron, unweit des Gefängnisses von Fertőrákos gelegen, ist für viele Ungarn ein geschichtsträchtiger Ort, denn hier wurden Menschen, die von den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts verurteilt worden waren, hingerichtet beziehungsweise beigesetzt. Parallel gewannen die Organisatoren den reformkommunistischen Staatsminister Imre Pozsgay und Otto von Habsburg als Schirmherren des Paneuropäischen Picknicks. Beide blieben der Veranstaltung jedoch aus Sicherheitsgründen fern und entsandten als Vertreter László Vass und Walburga von Habsburg.

Es war nämlich nicht absehbar, wie die Sowjetunion auf die Veranstaltung reagieren würde. Die Machthaber in Ungarn sahen das Picknick wohl auch als Möglichkeit, sowjetische Reaktionen auf den Grenzabbau auszutesten –

eine Intention, von der aber die Organisatoren des Picknicks nichts wissen konnten.

Handzettel mit dem Slogan „Baue ab und nimm mit“ bewarben das Paneuropäische Picknick als großes Fest unter Freunden und Nachbarn. Einen für landwirtschaftliche Zwecke erhaltenen Abschnitt des Eisernen Vorhanges konnten die Teilnehmer als Ausdruck eines grenzenlosen Europas mit eigenen Händen abbauen und sich die Echtheit bestätigen lassen. Erst wenige Tage vor dem Picknick erhielten die Organisatoren die Bestätigung, dass es tatsächlich an einer provisorischen Grenzübergangsstelle am Alten Pressburger Weg zwischen Fertőrákos in Ungarn und Sankt Margarethen in Österreich für Österreicher und Ungarn mit gültigen Ausweisdokumenten in der Zeit von 15 bis 18 Uhr möglich sein werde, die Grenze zu passieren.

Geplant war, um 15 Uhr mit offiziellen Delegationen die provisorische Grenzübergangsstelle sowie das Picknick selbst zu eröffnen. Fast schon kafkaesk erscheint, dass an jener Stelle ein altes Holztor stand, das seit 1948 fest verschlossen und verriegelt gewesen war. Den Schlüssel zu dem am Tor angebrachten Schloss konnte niemand mehr finden. Von daher entschied man sich, das Schloss durchzubrechen und im örtlichen Baumarkt ein neues Schloss zu besorgen. Dieses wurde sorgfältig verschlossen und sollte am Nachmittag des 19. August öffentlichkeitswirksam geöffnet werden.

Schicksalsmoment für die DDR-Flüchtlinge

Elektrisiert durch die Nachrichten über den Abbau der Grenze und das Ende der politischen Eiszeit in Ungarn hofften viele Tausende Ostdeutsche in diesem Sommer auf eine Möglichkeit, von dort aus in den Westen zu gelangen.

Bis zur endgültigen Grenzöffnung im September 1989 wurden an der Westgrenze Ungarns übrigens etwa 7.200 DDR-Flüchtlinge aufgegriffen, etwa 6.200 gelang die Flucht.

Am 13. August 1989, dem 28. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer, musste die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest wegen Überfüllung durch Zufluchtssuchende aus der DDR geschlossen werden. Die Vorsitzende des ungarischen Malteser-Caritas-Dienstes, Csilla Freifrau von Boeselager, organisierte daraufhin gemeinsam mit dem Pfarrer der Römisch-Katholischen Gemeinde „Zur Heiligen Familie“, Imre Kozma, eine provisorische Aufnahme und Versorgung der Menschen in Zugliget und in Csillebérc.

Inoffizielle Schätzungen beziffern die sich über den gesamten Sommer 1989 hinweg in Ungarn aufhaltenden Ostdeutschen auf 100.000 bis 200.000 Personen.

Die Nachricht vom Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter diesen in Ungarn weilenden Menschen. Tatsächlich war es in Ungarn alles andere als ein Geheimnis, was in Sopron geplant war, denn die Picknick-Organisatoren hatten Flugblätter mitsamt Kartenausschnitten an gut 25 Botschaften übermittelt.

Die unter Führung von Oberstleutnant Árpád Bella stehenden Grenzer in Sopron wurden am Tag des Paneuropäischen Picknicks von der großen Zahl hoffnungsvoll eintreffender Ostdeutscher völlig überrascht. Zunächst glaubte Bella, es mit der offiziellen Delegation der Organisatoren und den Vertretern Österreichs und Ungarns zu tun zu haben – doch warum sollten diese um schon um 14.57 Uhr statt zu der angekündigten Zeit eintreffen? Allerdings wurde Bella schnell klar, dass die verzweifelt in Richtung Grenztor stürzenden Menschen DDR-Flüchtlinge waren, die – alles zurücklassend – nur noch den Weg nach Österreich suchten. Bella beschloss, nicht einzugreifen, ostentativ der ungarischen Seite den Rücken zuzuwenden und schließlich nur die aus Österreich Kommenden zu kontrollieren.

Bis in die frühen Abendstunden gelangten so mehr als 600 DDR-Flüchtlinge in drei Schüben und vielen spontanen kleineren Durchbrüchen nach Österreich.

In seiner Singularität stellte dieses Ereignis zugleich auch die größte Massenflucht seit dem Bau der Berliner Mauer dar.

Die offizielle Delegation traf übrigens erst gegen 15.30 Uhr an Ort und Stelle ein. Zu jener Zeit lag sich der erste „Schwung“ der Ostdeutschen schon längst auf österreichischer Seite freudig in den Armen, erleichtert, es geschafft zu haben. Das Tor mit dem sorgsam angebrachten neuen Schloss war längst durchbrochen worden. Um aber medienwirksame Bilder zu produzieren und in alle Welt aussenden zu können, machten die Veranstalter das Tor wieder zu, schlossen es ab und öffneten es dann für die Kameras. Diese Aufnahmen sind auch der Nachwelt überliefert.

Für die DDR wurde das Paneuropäische Picknick zum Schicksalsmoment. Die Sowjetunion griff nicht ein und ließ die Ungarn gewähren.

Schließlich reifte mit dem Tod von Kurt-Werner Schulz, des offiziell letzten Opfers des Eisernen Vorhangs an der Grenze zu Österreich, einige Tage später die Einsicht, dass die Grenze letztlich für Flüchtlinge aus der DDR dauerhaft geöffnet werden müsste. Damit war das Schicksal der DDR besiegelt.

Quelle: https://www.kas.de/en/web/geschichte-der-cdu/calendar-detail/-/content/paneuropaeisches-picknick-bei-sopron

Autor, BENCE BAUER ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, im MCC

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