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Kardinal Péter Erdő: „Europa braucht Erneuerung“

Kardinal Péter Erdö, Primas von Ungarn
Die Tagespost traf den Primas von Ungarn zu einem Interview in Budapest. Foto: Christoph Hurnaus
Ob Spannungen zwischen Viktor Orbán und der EU, die Lage seiner Kirche oder die Polarisierung der ungarischen Gesellschaft: In einem Exklusivinterview mit der Tagespost gewährt der Primas von Ungarn, Kardinal Péter Erdö, Einblicke in die ungarische Gesellschaft und Kirche.

28. Juli 2021 DieTagespost von STEPHAN BAIER

Eminenz, Ungarns Gesellschaft wirkt stark polarisiert. Woran liegt das?

Ich bin überzeugt, dass die ungarische Gesellschaft auch vor hundert Jahren, im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, genauso polarisiert war. Das wurde bis heute nicht ganz aufgearbeitet.

Hat die kommunistische Ära die Polarisierung verschärft?

Ja, aber es gibt eine Vorgeschichte. Nach 1867 kam eine bürgerliche Entwicklung, die nie vollendet wurde. Das ist der Grund, weshalb Menschen im Westen unsere Situation oft nicht verstehen: Sie gehen davon aus, dass die Gesellschaft bei uns so entwickelt war wie im Westen. Das war nicht der Fall. Es ist schwer, ungarische Realitäten mit westlichen Kategorien zu bewerten. Aber Sie haben Recht: Die ungarische Gesellschaft ist sehr polarisiert.

30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus sollte sich etwas weiterentwickelt haben.

Ja, die Polarisierungen wurden aber nicht kleiner. Als man nach der Wende Ministerpräsident Jozsef Antall kritisierte, seine Reformen seien nicht tiefgreifend genug, sagte er: „Warum habt ihr keine Revolution gemacht?“ Es ist eine traurige Geschichte: Nach der Niederschlagung der Ungarischen Revolution von 1956 resignierte die Gesellschaft. Die Ungarn waren überzeugt, dass sie für den Westen nicht interessant seien, und dass sie den Sowjets geschenkt wurden. Darum wollten die Menschen nicht mehr kämpfen, sondern ihr Leben ein wenig bequemer machen. Zwischen 1956 und 2006 wurden sechs Millionen Abtreibungen durchgeführt, in einem Land von zehn Millionen! Man versuchte, sich das Leben auf Kosten künftiger Generationen erträglicher zu machen.

Die Regierung Orbán betont die christliche Identität Ungarns. Wie christlich oder säkular ist dieses Land?

In mancher Hinsicht sieht Ungarns Gesellschaft heute eher aus wie die ehemaligen Sowjetrepubliken, nicht wie die früher sozialistischen Staaten Mitteleuropas: Es gibt hier mehr Indifferentismus und religiöse Trockenheit. Auch in Russland behauptet man, die eigene Identität aus dem christlichen Erbe zu schöpfen, aber die Nichtgläubigen sind in der Mehrheit. In Ungarn unterscheidet man zwischen der christlichen Kultur und dem Christentum als gelebter Religion.

Wie steht es um das kirchliche und religiöse Leben?

Über 50 Prozent der Ungarn sind katholisch getauft. Eine offizielle Religionsstatistik gibt es wegen der Trennung von Staat und Kirche nicht. Nach der Religion wird nur anonym und fakultativ gefragt. 10 bis 12 Prozent der Katholiken besuchen die Sonntagsmesse. Die standesamtlichen wie die kirchlichen Eheschließungen sind sehr gering, auch wenn sich das nun etwas gebessert hat. Da wird das Phänomen der Institutionen-Feindlichkeit sichtbar. Bei uns geht es weniger um die Frage, wie man eine zweite standesamtliche Ehe kirchlich sieht, sondern wie wir damit umgehen, dass viele weder kirchlich noch standesamtlich heiraten, aber zusammenleben. Nach der Wende wurden viele Schulen zurückgegeben oder ab 2010 vom Staat in kirchliche Trägerschaft überführt. Das ist eine große, manchmal zu große Herausforderung. Aber es wurden der Kirche in Ungarn, anders als in anderen exkommunistischen Staaten,  keine Produktionsgüter zurückgegeben. Nun ist die Kirche insofern vom Staat abhängig als sie diese Lasten aus eigener Kraft finanziell nicht tragen kann. Vor allem die Renovierungskosten für Kirchen und Gebäude sind viel zu hoch.

Was läuft falsch zwischen der EU und der ungarischen Regierung?

Papst Franziskus sagte 2014 vor dem Europarat in Straßburg, Europa solle zu seinen Wurzeln zurückkehren und aus dem jüdisch-christlichen Erbe schöpfen. Unsere geschichtliche Erfahrung war  wirtschaftlich, aber auch kulturell, anders als die der Westeuropäer. Als wir nach der Wende der EU beitraten, konnten wir über die Prinzipien der Union nicht mehr verhandeln, sondern mussten sie annehmen, wie sie waren. Das kann psychologisch und strukturell ein Problem sein. Europa braucht eine Erneuerung, und wir arbeiten daran. Aber Europa ist größer als die EU, nämlich ein kultureller Raum. Meine Erfahrung ist, dass Europa einen Vorteil hat, weil es aus Nationen mit ihren Traditionen und Kulturen besteht, die aber einen Zusammenhang haben: Es war das Christentum, das in mehr als tausend Jahren die Nationen verbunden und ihre Eigenschaften weiterentwickelt hat.

Was bedeutet der Internationale Eucharistische Kongress im September für Ungarn?

Sehr viel. Von den Erinnerungen an den Eucharistischen Weltkongress 1938 in Budapest hat eine ganze Generation gelebt. Da war das Gefühl, dass die göttliche Vorsehung uns nicht vergisst, auch wenn die Weltmächte kleine Völker wie die Ungarn leicht vergessen. Der Kongress von München 1960 hat die Ziele überdacht: Es geht nicht um eine Machtdemonstration, sondern um eine Öffnung zur Welt. Darum entnahmen wir das Motto Psalm 87: „Alle meine Quellen sind in Dir“. Die Quelle bleibt nicht in der Kirche, sondern gibt der ganzen Welt Wasser. Das zeigt sich etwa in unserer sozialen und caritativen Arbeit. So geben wir vor dem Kongress ein Mittagessen für die Obdachlosen.

Die Kirche hat die Kulturen Europas über Jahrhunderte inspiriert. Hat sie dazu heute noch die Kraft?

Ohne eine geistliche Erneuerung ist eine Neuevangelisierung schwer vorstellbar. Es ist wichtig, dass der Heilige Vater die Zeichen für die Einheit der Kirche setzt. Letztlich geht es um unsere Treue zu Jesus Christus.

Der ganze Interview mit dem Primas von Ungarn, Kardinal Péter Erdő ist hier zu lesen

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