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Einstand – Die Zerstörung der historischen Identität

19. Januar 2023 Magyar Hírlap von LÁSZLÓ BOGÁR

Wir Ungarn haben das Wort „Einstand“ in besonderer Weise in unser inneres geistiges „Wörterbuch“ aufgenommen, weil der berühmte Roman von Ferenc Molnár „Die Jungen von der Paulstraße“ eine Bedeutungsnuance dieses Wortes aufzeigte, die sich nur schwer exakt wiedergeben lässt. Das Wort Einstand bedeutet auf Deutsch einfach Beginn eines Arbeitsverhältnisses, Dienstantritt. Im Endeffekt ist genau das, was auch im Roman passiert: Raub, Gewalt und Terror beginnen, ihren Beruf auszuüben.

Deutschland ist momentan dabei, (auch) den Dritten Weltkrieg zu verlieren. Da dieser dritte Weltkrieg für Europa bereits zu Ende ist, könnte die Niederlage nicht vollkommener sein.

Der Erste Weltkrieg zerstörte das Zweite Deutsche Reich, der Zweite Weltkrieg zerstörte das Dritte Reich, und jetzt, im Dritten Weltkrieg, fällt auch das Vierte Deutsche Reich, das sich schüchtern und verkleidet als Europäische Union bezeichnet.

Der Zweite Weltkrieg hat Deutschland zwar materiell und physisch zerstört, aber er hat das Land geistig, moralisch und intellektuell mobilisiert und das Ergebnis war dann das „deutsche Wirtschaftswunder“, das auch ein Wunder der Seele war.

Obwohl Deutschland heute finanziell und physisch viel besser dasteht, befindet es sich geistig, moralisch und intellektuell in einer wesentlich schlechteren Verfassung. Während es die Zerstörung seiner geistigen Identität hilflos hinnahm, erkannte es nicht, dass die materiell-physischen Grundlagen seines Wohlstands durch einen weitaus fataleren Krieg zerstört wurden. Die Tragikomik dieses rituellen Selbstmordes wurde im letzten Jahr durch das Agieren der deutschen Sicherheitskräfte ergänzt, die mit dreitausend Einsatzkräften im Rahmen eines Hollywood-Spektakels gegen eine staatsfeindliche Verschwörung vorgingen. Die Razzia war offensichtlich auch deswegen ein voller Erfolg geworden, weil der Chefkonstrukteur, der Zerstörer selbst die Clownsverschwörung organisierte, in der die von ihm angeführten „Verschwörer“ das Zweite Deutsche Reich wiederherstellen wollten.Die ganze fieberhafte Aktion, die am ehesten an absurde Tragikomödien erinnerte, war natürlich auch eine Möglichkeit, auch hier den Russen die Schuld zuzuschieben. Diese Burleske passt zur historischen Agonie Deutschlands, in der das reflexive Verhältnis zur eigenen historischen Identität endgültig zu verschwinden scheint.

Obwohl die globale – sich als „nicht existierend“ bezeichnende –

Hintergrundmacht, die das amerikanische Imperium antreibt, Deutschland bereits zweimal mit der gleichen Trickserie zerstört hat, hielten es die heutigen deutschen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und medialen Eliten für eine „gute Idee“, ihre eigene dritte Liquidierung selbst vorwegzunehmen.

Der deutsche Bundeskanzler selbst hat diese Reihe zuvorkommender Gesten nun mit einem langen Artikel im Foreign Affairs, dem Sprachrohr eben jener imperialen Machtstrukturen, die Deutschland bereits zweimal demontiert haben, vervollständigt. Der Titel des Artikels lautet „The Global Zeitwende“.

Der deutsche Bundeskanzler hat nicht nur pflichtbewusst die imperiale Lektion aufgesagt und machte sich damit das vorherrschende globale Narrativ – das nun wieder auf die Beseitigung Deutschlands abzielt – zu eigen, sondern erklärte auch stolz, dass Deutschland nun endlich wieder eine Weltmacht geworden sei. Dass das, was US-Präsident Bush 1990 bei der deutschen Wiedervereinigung als „partnership in leadership“ bezeichnete, nun in Erfüllung geht – dass Deutschland und Amerika nun gemeinsam die führenden Mächte in der Welt seien. Wenn man das liest, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll, ich würde Letzteres vorziehen. Wenn das amerikanische Imperium mit dem von ihm provozierten Dritten Weltkrieg nun schnell, einfach und mit Deutschlands willfähriger Hilfe und vor allem billig die Grundlagen des hochentwickelten und hochtechnisierten Weltgefüges der letzten anderthalb Jahrhunderte zerstört und Deutschland auf das Niveau einer drittklassigen regionalen Mittelmacht zurückdrängt, dann visioniert der deutsche Bundeskanzler gerade einen historischen Sieg – bravo.

Wir sind es der Wahrheit schuldig, darauf hinzuweisen, dass das Imperium, obwohl es Deutschland leicht, schnell und billig liquidieren kann, für eine einzige Operation doch ernsthafte Kräfte einsetzen musste, und zwar für die Sprengung der deutsch-russischen Nord-Stream-Gaspipeline. Diese eher pädagogische Aktion war notwendig, um der etwas schwerfälligen deutschen Öffentlichkeit ein symbolisches Signal zu geben, dass eine Ära wirklich zu Ende geht, dass eine Zeitenwende tatsächlich stattfindet.

Das Hauptmerkmal dieses Epochenwechsels wird jedoch nicht so sehr der Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht, sondern vielmehr sein noch nie gesehener dramatischer Niedergang im globalen Machtgefüge sein.

Bei der zweiten Liquidierung Deutschlands (1945) spielte die „nicht existierende“ Weltmacht mit der Idee, was passieren würde, wenn sie, wie Goebbels es ausdrückte, das besiegte Deutschland in einen riesigen Kartoffelacker verwandeln würde: das war der berühmt-berüchtigte Morgenthau-Plan. Da es aber am einfachsten war, Russland, das damals unter dem Decknamen Sowjetunion zu einer Supermacht emporstieg, in Schach zu halten, indem man Deutschland aufrüstete und unter strenger Kontrolle hielt, erlaubte sie gnädigerweise das Überleben der deutschen Technologiestruktur. Und um auf der sicheren Seite zu sein, sah sie sogar in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, dass ein starkes Deutschland, das von Russland angetrieben wurde, eine Zeit lang gegen ein Russland nützlich sein würde, das sich damals in eine eher unsichere Richtung bewegte.

Obwohl die Umrisse eines neuen Nachkriegsfriedenssystems noch nicht erkennbar sind, da Russland erheblich geschwächt ist, scheint ein zumindest auf dieses Niveau geschwächtes Deutschland für das Reich am besten geeignet. Nun, dieser schaumverminderten Liquidierung assistiert die deutsche Elite mit Begeisterung.

Der Autor, László Bogár ist Wirtschaftswissenschaftler

Deutsche Übersdetzung von Dr. Andrea Martin

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20230115-einstand

Bild: Statue von Péter Szanyi (Einstandsszene aus dem Roman „Die Jungen aus der Paulstraße“)

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