Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Kommunismus
Dort, wo die Tyrannei ist,
ist die Tyrannei,
in den Gewehrläufen,
in den Gefängnissen ist sie
aber nicht nur, im Gebrüll
der Wärter ist sie, nachts,
in den Verhörzellen,
aber nicht nur, sie ist
im schwarzen Qualm
der Anklagereden,
in den Geständnissen,
in den Morsezeichen
der Häftlinge, auch
in den kalten Silben
des Richters ist sie,
der Schuldig! sagt,
aber nicht nur, im Habt Acht!,
im Trommelwirbel, im Feuer-
befehl, im dumpfen Sturz
des Toten in seine Grube,
aber nicht nur, auch
in der Nachricht ist sie,
die heimlich geflüstert wird
durch die halboffene Tür,
im Finger, der Pst! sagt,
in den Gesichtern,
die sich verriegelt haben,
aber nicht nur dort,
auch dahinter ist sie,
hinter den Gittern,
wo der wortlose Jammer
um sich schlägt und schreit,
im Lauf der Tränen,
der das Schweigen düngt,
im erstarrten Augapfel
ist die Tyrannei,
nicht nur in den Händen
an der Hosennaht,
in den Hochrufen,
in den Liedern, im Jubel,
dort, wo die Tyrannei ist,
ist die Tyrannei
nicht nur im Beifall
unermüdlicher Hände,
in den Fanfaren, den lauten
Lügen der Denkmäler,
in der Oper, den Farben
der Ausstellungen,
in jedem Keilrahmen,
ja schon im Haar des Pinsels
ist sie, nicht nur
im Bremsen des Wagens,
der vor der Tür hält,
nachts, wo die Tyrannei ist,
ist sie allgegenwärtiger
als dein gewesener Gott,
überall ist sie, auch
in den Kindergärten,
im Rat des Vaters,
im Lächeln der Mutter,
nicht nur im Stacheldraht,
in der Antwort des Kindes,
das ein Fremder fragt,
ist sie, in den Zeilen
der Bücher, wenn es nur
der Stacheldraht wäre,
in den blöden Phrasen,
die dich verblöden,
aber nicht nur da,
sie ist in den Küssen
zum Abschied, wenn die Frau
fragt Wann kommst du wieder?,
sie ist auf der Straße,
in deinem Wie gehts Wie gehts,
im Druck einer Hand,
die plötzlich erschlafft,
im Gesicht deiner Liebe,
das auf einmal erstarrt,
denn da ist sie auch,
im flüchtigsten Rendezvous,
in den Vernehmungen ist sie,
aber nicht nur dort, sie ist
in den Worten der Liebe,
im Rausch, wie die Mücke im Wein,
denn allein bist du nie,
auch in den Träumen nicht,
auch im Hochzeitsbett ist sie
vor dir da, im Verlangen,
denn nur das ist schön,
was sie berührt hat,
mit ihr, nicht mit der Liebe
hast du geschlafen,
sie ist auf dem Teller, im Glas,
in der Nase, im Mund,
in der Dämmerung, in der Kälte,
im Freien, im Zimmer,
als käme der Leichengeruch
durch das offene Fenster,
als strömte von irgendwo
Gas in die Wohnung,
in deinen Selbstgesprächen
horcht sie dich aus,
in deinen Phantasien
nistet sie, aber nicht nur,
die Milchstraße ist eine Grenze,
Scheinwerfer leuchten,
am Himmel, ein Minenfeld
in der Höhe, ein Horchposten,
das Gewimmel am Firmament
ein einziges Arbeitslager,
denn sie ist überall,
in jedem Haus, sie spricht
aus den Glocken, der Predigt
des Pfarrers, bei dem
du beichtest, Kirche ist sie,
Parlament, Folterkeller,
ob du die Augen auftust
oder schließt, du spürst
ihren Blick, sie erinnert dich,
wie eine Krankheit mahnt sie,
Sklave, Sklave, singen die Rader
des Zuges, du atmest sie ein
im Gebirge, am Meer
ist sie da, sie ist da,
wenn es blitzt, aber nicht nur,
im kleinsten Geräusch,
in jeder Bewegung, die du
nicht erwartet hast,
in der Ruhe, der Herzbeklemmung,
der Handschellen-Langeweile,
im Regenschauer, der
den Himmel vergittert,
im fallenden Schnee,
der die Zellenwand weißelt,
aber nicht nur, aus den Augen
deines Hundes blickt sie dich an,
in allen Zielen wartet sie
auf dich, in der Zukunft,
in dem, was du denkst,
in all deinen Gesten,
du schaffst sie dir
wie der Fluß sein Bett,
so folgst du ihr,
siehst sie im Spiegel,
sie horcht dich aus,
du entgehst ihr nicht,
Gefangener bist du, Wärter
zugleich, dein Tabak schmeckt
nach ihr, deine Kleider
riechen nach ihr, dein Hirn
ist voll von ihr, dir fällt
nur ein, was ihr einfällt,
du möchtest sehen, du siehst
nur das, was sie phantasiert,
wie ein Waldbrand ist sie,
entstanden aus einem Zündholz,
du hast es weggeworfen, doch
zertreten hast du es nicht,
so umzingelt sie dich
in der Fabrik, auf dem Feld, zuhaus,
und du weißt nicht mehr,
was Leben ist, Brot, Fleisch,
Liebe, Verlangen, nicht,
was ausgebreitete Arme sind,
die Handschellen, die er trägt,
schmiedet der Sklave sich,
wenn du ißt, mästest du sie,
für sie zeugst du
dein Kind, denn wo sie ist,
ist jeder ein Kettenglied,
du stinkst nach ihr,
du selbst bist die Tyrannei,
du gehst blind wie die andern,
ein Maulwurf im Licht,
in deiner engen Zelle,
in deiner Wüste bist du allein,
denn wo die Tyrannei ist,
dort ist alles vergeblich,
auch das getreue ste Wort,
auch der Satz, den ich schreibe,
denn von Anfang an wacht sie
an deinem Grab, die Tyrannei,
sie bestimmt, wer du warst,
noch dein Staub wird ihr dienen.
Übersetzt von Magnus Enzensberger
Quelle: https://www.magyarulbabelben.net/
MAGYARUL: https://konyvtar.dia.hu/html/muvek/ILLYES/illyes00001/illyes01961/illyes01961.html