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„Die Waffen nieder!“ – zum Weltfriedenstag am 1. September

3. September 2023 Budapester Zeitung von Hans-Henning Paetzke

Seit vielen Jahrzehnten wird am 1. September der Weltfriedenstag begangen. Hat sich seither etwas in Richtung Weltfrieden bewegt? Wider den Wahnsinn in der Ukraine!

Derartiges ist für mich leider nicht zu erkennen. Ein Eckpunkt für die globale Friedenssehnsucht der Menschen hätte der 1898 erschienene Roman Die Waffen nieder! der späteren Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner gewesen sein können. Hätte! Doch seither hat es unzählige lokal begrenzte Kriege und zwei Weltkriege gegeben. Sollte nun gar ein dritter bevorstehen? Einer, dessen Menschenopfer neben der Vernichtung unseres eigentlich schönen Planeten lediglich als Kollateralschäden zu begreifen wären? Ich weiß es nicht und will auch nicht den Teufel an die Wand malen.

Gefallene Friedensengel

Friedensbewegte junge Leute, mit denen ich einst sympathisierte, haben sich an den Schalthebeln der Macht

von Friedensengeln zu enthusiastischen Kriegsbefürwortern gewandelt, zu Befürwortern von Rüstungsexporten in Krisengebiete, zu Wendehälsen des alles beherrschenden Mainstreams.

Wie hieß es doch einst? „Frieden schaffen ohne Waffen!“ Aber die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie? Sie sind in den USA ebenso wichtig wie in Deutschland, in Westeuropa. Das Geschäft mit dem Tod spült Steuern in die chronisch leeren Staatskassen.

Auch in der ungarischen Staatskasse klaffen gähnende Löcher. Angeblich wegen tiefgreifender Korruption. Dies ist die Meinung von Ungarn nicht eben freundlich gesonnener tonangebender Politiker in der EU. Der im Westen ungeliebte Viktor Orbán dagegen glaubt, dass die sich ihm gegenüber feindlich gebärdende Politik vor allem mit seiner Haltung in Verbindung mit der unkontrollierten Migration zusammenhängt. Wie auch immer! Jedenfalls werden fällige Zahlungen der EU an Ungarn zurückgehalten, um den widerspenstigen Ungarn auf Kurs zu bringen.

Ich selbst bin auch ein Migrant, auch wenn ich mich lieber als Exilanten bezeichnen würde. Seit 1968 lebe ich mit einundzwanzig Jahren Unterbrechung in Ungarn. Ich habe als Ausländer hier gelebt und als Journalist und literarischer Übersetzer gearbeitet. Und tue dies noch immer. Ich habe mich sprachlich und kulturell integriert. Zwischen 1985 und 1988 allerdings durfte ich als Persona non grata nicht mehr einreisen. Dann aber wieder. Und seither lebe ich in Ungarn als deutscher Exilschriftsteller und Übersetzer. Inzwischen sogar mit doppelter (ungarischer und deutscher) Staatsbürgerschaft.

Als Migrant, als von Frankfurt am Main nach Budapest „Gewanderter“ werde ich trotz leidlicher Sprachkenntnisse wohl nie ein richtiger Ungar werden und trotz meiner deutschen Muttersprache kein wirklicher Deutscher mehr sein. Manchmal verheddere ich mich in meinen verschiedenen Identitäten: deutsch-ungarisch-polnisch-jüdisch-menschisch.

Sofern es nicht der eigenen Bequemlichkeit Abbruch tut, sind die Ungarn ein äußerst gastfreundliches Völkchen. Vor allem unter Intellektuellen erfreut sich die deutsche Willkommenskultur großer Beliebtheit. Dabei gerät die Symbolfigur der „Wir-schaffen-das-Bewegung“ allmählich in Verdacht, doch nicht das Beste für ihr Land getan zu haben. Man darf gespannt sein, wann Viktor Orbáns Einwände gegen eine ungehinderte Zuwanderung mit anderen Augen gesehen werden und er sogar rehabilitiert werden könnte.

„Die Waffen nieder!“

Auch wenn ich kein kritikloser Orbán-Anhänger bin, heiße ich dessen Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern, gut.

Orbáns Einstellung zum Ukraine-Krieg kann ich nachvollziehen. Seine Forderung nach Einstellung des Krieges und nach Waffenstillstands- beziehungsweise Friedensverhandlungen, die Kritik an der Sanktionspolitik der Westeuropäer und des amerikanischen großen Bruders kann ich gut verstehen.

Die inzwischen ausufernden Schwierigkeiten der Wirtschaft, die Inflation, die Abwanderung von Schlüsselindustrien, die steigende Zahl von Konkursen bei mittelständischen Betrieben beobachte ich mit wachsender Sorge.

Die deutsche Energieversorgung ist infolge der ausbleibenden russischen Gaslieferungen und neokommunistischer Ideologievorstellungen gefährdet. Strom, so scheint manch einer zu meinen, komme aus der Steckdose oder könne ja gegebenenfalls aus dem Ausland besorgt werden. Nun ja, ziemlich teuer. Und sicher ist auch verteufelter Atomstrom darunter. Otto Normalverbraucher ächzt unter der galoppierenden Schwindsucht der Wirtschaft. Die regierende Elite übt sich in Beschwichtigung. Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland seien zwingend notwendig. Deutsche Panzer gegen den russischen Bären ebenso. Dabei haben sie die einst heilsame Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht verhindert, dafür aber die Schlachtfelder Europas mit zig Millionen Toten übersät.

Krieg, so heißt es bei Clausewitz, sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der Eroberer sei immer friedliebend. Das könnte auch die russische Sicht der inzwischen ausufernden Militäraktion gegen die Ukraine sein. Ob der Glaube an diesen Euphemismus nach dem nunmehr anderthalb Jahre währenden Bruderkrieg nicht doch feine Risse bekommen haben mag, sei dahingestellt.

Schon Stalin hatte versucht, die Ukraine gefügig zu machen und ihr ihre Träume von Autonomie auszutreiben. Der von Stalin zu verantwortende ukrainische Holodomor Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts mit drei bis sieben Millionen Hungertoten dürfte sich in die Seelen der Nachgeborenen ähnlich tief eingegraben haben, wie der Holocaust in das Gedächtnis der Juden. Eine Erklärung dafür, warum die Ukrainer so verzweifelt um die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit kämpfen? Schon möglich.

Für den Aggressor Sympathie oder Verständnis aufzubringen, ist für mich nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch gibt es Erklärungen für Putins Vorgehen. Für ihn könnte das Vorrücken der Nato bis an seine Grenzen, der drohende Nato-Beitritt der Ukraine das Schrillen aller Alarmglocken ausgelöst haben.

Chruschtschow jedenfalls hatte 1962 in der Kuba-Krise klein beigegeben. Ein solches Einlenken in Verbindung mit Polen, dem Baltikum und der Ukraine hatte sich Russland wohl auch erhofft. Vergebens!

Ich bin weder Politologe noch Historiker. Weshalb ich mir auch nicht anmaße, ein abschließendes Urteil zu fällen. Nichts ist wirklich gleich oder gar dasselbe.

Wem nutzt der Krieg in der Ukraine?

Aber wem nutzt die Verwüstung der Ukraine? Wem nutzen die auf beiden Seiten der Kriegsparteien mehrere hunderttausend Gefallenen, Verstümmelten, Gedemütigten, Vertriebenen und Vergewaltigten? Den leidenden Familien ganz sicher nicht.

Die Rüstungsindustrie erlebt derzeit einen neuen Aufschwung. Ihre Aktionäre können frohlocken. Außerdem entstehen in den Friedensregionen neue Arbeitsplätze. Wie erfreulich! Weltweit operierende Spekulanten sollen bereits viele günstige Verträge für den Wiederaufbau der Ukraine abgeschlossen haben. Was alles sie bereits an Land, Bodenschätzen und Industrieunternehmen zur gewinnbringenden Nutzung aufgekauft haben, entzieht sich freilich meiner Kenntnis.

Sterben für eine Ideologie, für ein Land?

Ich habe fast dreißig Jahre im Kommunismus gelebt, überlebt. Schön war es keineswegs. Aber wir haben Freundschaften geschlossen, viel gelesen, geliebt und trotz allem Freude am Leben gehabt, manchmal auch mit unverhohlenem Neid nach dem Westen geschielt. Was ich damit sagen will? Ich wollte weder damals noch heute für eine Ideologie mein Leben hingeben. Wenn schon sterben, dann nicht auf dem Schlachtfeld! Lieber schon an Altersschwäche im Kreis meiner Familie!

Nach den beiden Weltkriegen ist Europa neu aufgeteilt worden. Gebiete sind verloren gegangen. Schrecklich! Na und? Ich stelle mir die Frage, ob die Menschen in der Ukraine trotz eventueller Gebietsverluste ein menschenwürdiges Leben leben könnten. Ich glaube schon. Sicher würde es einen Bevölkerungsaustausch geben, wie unter so traurigen Verhältnissen wohl schwerlich zu vermeiden wäre. Oder Selenski könnte sich durch eine liberale Minderheitenpolitik hervortun. Selbstverständlich müsste in einigen Gebieten Russisch neben Ukrainisch zu einer Amtssprache erklärt werden. Ebenso Ungarisch und andere Minderheitensprachen.

Allerdings macht mir die durchaus aggressive ukrainische Assimilationspolitik und das Sprachengesetz Sorgen. In Schulen und Universitäten schreitet die Benachteiligung beziehungsweise Verdrängung nicht-ukrainischer Sprachen hurtig voran.

Trotz des Krieges. Oder gerade deshalb?

Geopolitik vs. Menschenleben

Doch erst einmal sollte der schreckliche Krieg zu einem weniger schrecklichen Ende gebracht werden. Jeden Tag hoffe ich darauf. Die Verluste an Menschen sind derart hoch, dass Russland, das ja über schier endlose Ressourcen an Menschen verfügt, schlimmstenfalls dank brüderlicher Solidarität Chinas (wie schon einmal Nordkorea im Krieg gegen Südkorea) am Ende entvölkerte ukrainische Landstriche vorfinden könnte, die neu bevölkert werden müssten, wie einst das durch Pestepidemien leergefegte Siebenbürgen.

Will man das? Wollen die Amerikaner das? Rechtfertigt das Erreichen geopolitischer Ziele solche Blutopfer? Das sind Fragen, auf die ich keine Antwort zu geben weiß. Ich kann mich nur immer wieder Bertha von Suttners selbst nach hundertfünfundzwanzig Jahren noch immer aktueller Forderung anschließen: „Die Waffen nieder!“

Der Autor, Hans Henninh Paetzke wurde am 1. September 1943 in Leipzig geboren. 1960 wegen Verunglimpfung des Staatsoberhaupts der DDR Verweisung von sämtlichen Oberschulen der DDR, 1960-63 Ausbildung als Schauspieler, 1963 fristlose Kündigung durch das Staatliche Dorftheater Prenzlau wegen Verletzung der Staatsbürgerpflichten, 1963-64 Verbüßung einer Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, 1967 Abitur, 1967-1976 Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Psychologie in Halle/S., Budapest und Frankfurt/M., 1968 Emigration nach Ungarn, 1973 nach Frankfurt/M., 1981-85 persona non grata in der DDR, 1985-88 persona non grata in Ungarn, 1994 Rückkehr nach Budapest. Seit 1968 freiberuflich als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Journalist und Schriftsteller tätig, zirka 80 Buchübersetzungen; Bundesverdienstkreuz, Offizierskreuz der Republik Ungarn, u.a. Übersetzungen aus dem Ungarischen von Péter Esterházy, György Konrád, Péter Nádas, György Petri u.v.a.m.

Dieser Feuilleton erschien zuerst in der Budapester Zeitung: https://www.budapester.hu/feuilleton/wider-den-wahnsinn-in-der-ukraine/

Bildquelle: https://www.ovb-online.de/rosenheim/chiemgau/gefaengnis-wuchs-kraft-10068216.html

Ein Kommentar

  1. Lieber Herr Patzke, Sie stellen vorsichtig sehr wichtige Fragen, auf die wir die Antworten längst wissen: Wer will, wer betreibt den Krieg? Es ist bekannt, dass eine Einigung schon in Marz 2022 zustande gekommen wäre, wenn die Amerikaner (und Boris Johnson) die Ukrainer davon nicht zurückgehalten hätten. Wir können nur schätzen, wieviel hunderttausende Menschenleben wären erhalten geblieben, wieviel Infrastruktur wäre nicht vernichtet worden, wenn diese Kriegshetzer damals nicht agiert hätten. (Kein Problem, die ukrainischen und russischen Menschenleben zählen nicht, wenn das Riesengeschäft der Rüstungsindustrie und später mit der Wiederaufbau winkt) Unsere gemeinsame amerikanische Freunde sind auch dann sofort zu Hilfe geeilt, als Europa sich mit der Einstellung der Übernahme des russischen Gas und Öl strangulierte. Auch kein Problem, auf Anhieb haben wir für den fünffachen Preis Ersatz bekommen, aber damit stiegen die Kosten der Industrieproduktion in den Himmel, gleich komplette Industriebereiche wurden von heute auf morgen konkurrenzunfähig, deutsche Grosskonzerne fangen an (vielleicht zu spät?) die vollständige Produktion ins Ausland zu verlagern (wohin? Na klar in die USA) Die Lage sieht in Europa so aus und wer profitiert davon? Fast alle Grossakteure: zuerst geht der Löwenanteil an die Amerikaner, aber China, Indien sind auch Nutzniesser: die bekommen Energie von den den Russen noch billiger, als früher.
    Anstatt billige Energie wiederum bekommt Europa Millionen von hilfebedürftigen Flüchtlingen, die weder arbeiten wollen, noch können und noch dazu integrationsunfähig sind. (Es war ein Trauerspiel, als der Mercedes-Konzernchef das Problem der Arbeitskräftemängel mit Flüchtlingen lösen wollte)
    Lieber Herr Patzke, Sie haben die Person nicht namentlich genannt, jetzt tue ich es: Frau Merkel war die Erste und Wichtigste in der Reihenfolge derTotengräbern Europas, und die Nachfolger treten nur eifrig in ihre Fussstapfen.
    Der Zug ist leider abgefahren, diese zwei genannten Ursachen hätten Europa schon voneinander unabhängig den Gnadenstoss gegeben, so kommuliert beschleunigen nur den Vorgang. Was übrig bleibt, nur der traurige Untergang eines ruhmreichen Kontinents. In der Geschichte der Menschheit nicht das erste mal.

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