Suche

Die 801 Jahre alte ungarische Verfassung, die Goldene Bulle

2. Mai, 2023 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Die Goldene Bulle fasst die Rechte und Pflichte zusammen. Einige Paragraphen sind bis heute Grundsteine der modernen Rechtsbildung, wie die Freiheit des Individuums, die persönliche und materielle Sicherheit, die Rechtspflege, die Achtung des Privateigentums, der Wehrdienst, die Steuer, die Gesetzgebung und sogar das Recht auf Widerstand bei Missbrauch der (königlichen) Macht. Das Recht auf Widerstand ist seit der Staatsgründung ein Teil des ungarischen Rechtssystems.

Es gibt vielleicht keinen sich als Ungar fühlenden Menschen auf der Welt, der die Jahreszahl 1222 und den mit dieser Zahl zusammenhängenden Begriff, die Goldene Bulle, nicht kennt. Es sind 801 Jahre, dass König Andreas der II. (1205-1235) die Goldene Bulle herausgab, diese mit vier aus reinem Gold gefertigten Siegeln versehene Urkunde, die in ihrer Wirkung bis heute das Symbol der ungarischen Rechtstaatlichkeit abbildet.

Auch unser 2011 verabschiedetes, in der westlichen Hemisphäre umstrittenes

Grundgesetz blickt auf die Goldene Bulle als seine historische Vorlage, die zusammen mit der heiligen Stephanskrone die konstitutionelle Kontinuität des Ungarischen Staates und die nationale Einheit verkörpert.

Diejenigen können diese Altertümlichkeit belächeln, für die die Vergangenheit auf die eigene Interessensphäre und den entsprechenden Kenntnisstand einengt ist, diejenigen, die die Geschichte nicht kennen, und deshalb die sich ständig auf ihre Geschichte berufenden Ungarn für lächerlich erachten. Die heilige Stephanskrone ist jedoch keine reine Krönungsinsigne, die man auf dem Kopf des Königs platzierte, sondern nach der ungarischen Rechtsauffassung das von der Person des Königs losgelöste Symbol des ungarischen Staates, sie verkörpert die territoriale Einheit und die Einwohner des Landes. Die heilige Krone, die vom ersten König, von Stephan dem Heiligen (1000-1038) entstammt, ist auch heute kein musealer Gegenstand, deswegen hat sie ihren Platz im Gebäude des Parlaments, an Ort und Stelle der Gesetzgebung.

Eine ähnliche Rolle wie die heilige Stephanskrone nimmt unser historisches Grundgesetz, die Goldene Bulle, die größte Errungenschaft in der ungarischen Verfassungsentwicklung.

In Europa wird sie zeitlich betrachtet allein durch die Magna Charta Libertatum aus dem Jahr 1215, durch den Freibrief von England über die Sicherung der Rechte der Stände, überholt. Man kann aber einen Zusammenhang oder eine gegenseitige Wirkung in dem Inhalt der beiden Urkunden nicht nachweisen.

Die Golden Bulle wurde nicht durch einen Aufstand vom König erpresst, weil dessen Macht, Reichtum und Ansehen in Ungarn unbestreitbar war. Er war der größte Grundbesitzer im Land, seine Einnahmen waren selbst nach westlichen Maßstäben herausragend, seine internationalen – dynastischen – Beziehungen waren sehr gut. Mütterlicherseits hatte er eine bedeutende Verwandtschaft in Byzant, er selbst nahm die Herzogin Gertrud von Meran zur Frau, sein Schwiegersohn war der Marktgraf von Thüringen. Denn die Heilige Elisabeth aus dem Königshaus der Árpáden, die von den Deutschen als ihre liebste Heilige unter dem Namen Elisabeth von Thüringen verehrt wird, war seine Tochter. (Nur so in Klammern ist es erwähnenswert, dass die Mitgift der ungarischen Königstochter die Münder der Deutschen offenließ, weil sie so viel Reichtum in ihrem Leben nicht gesehen haben.)      

Das mittelalterliche Königreich Ungarn galt als das Zünglein an der Waage im machtpolitischen Wettbewerb zwischen dem Deutsch-Römischen Kaiserreich und dem byzantinischen Reich.

Man konnte Ungarn nicht umgehen, noch dazu war es auch dem Papst nicht ausgeliefert, weil der ungarische König das Investiturrecht (ius supremae patronatus) hatte, die kirchlichen Würdenträger zu ernennen, der Papst musste nur diese Entscheidung abnicken, er konnte sie höchstens beanstanden.

Das Land befand sich sowohl nach außen, als auch nach innen in einem sicheren Zustand, die großen Vorfahren von Andreas II. bauten die nach dem heutigen Sprachgebrauch „Pufferzone“ genannten Territorien aus, die den Schutz des Landes gewährleisteten. Die südlich gelegenen Gebiete gehörten alle der ungarischen Interessensphäre an,

der ungarische König war von Gottes Gnaden Herr über Dalmatien (seit 1105), Kroatien (seit 1091) Rama (das heutige Bosnien seit 1103), Serbien, Galizien und Lodomerien (heutige Westukraine), und trug diese Titel zumindest als ewige historische Rückbesinnung bis zum Jahr 1918.

Andreas II. war ein weltoffener Mann, er führte 1217 ein großes internationales Kreuzfahrerheer ins Heilige Land, was die Reputation des ungarischen Königtums zeigt. Den Feldzug stempelten die zeitgenössischen Medien als erfolglos ab, obwohl er recht erfolgreich war: er war eine beispiellos gut geführte, Ordnung stiftende Friedensmission, Andreas erwies mit ihm einen guten Dienst für Europa. Mit seinem diplomatischen Gespür schmiedete er auch Vorteile für sich, er knüpfte dynastische Beziehungen zu den orientalischen Herrschern. Er übernahm die Kosten „zur ewigen Unterhaltung“ der Burg Margat im Gebiet des heutigen Syrien. (Vielleicht deshalb arbeiten ungarische Archäologen an der gegenwärtigen Freilegung dieser Burg.)

Von diesem Feldzug mit entsprechenden Erfahrungen zurückgekehrt, wollte Andreas II. die königliche Macht auf eine neue Basis stellen. Er sah, dass die wirtschaftliche Struktur des Landes zurückgeblieben war und nicht lange so weiter bestehen konnte. Er führte Reformen durch, die, wie jede Reform, für manche mit Vorteilen (für die königlichen Diener), für andere mit Nachteilen (für die Burgherren) verbunden waren. Bei denen, die als die Nutznießer der alten Ordnung galten, rührte sich natürlich Widerstand. Diejenigen, denen die Reformen Vorteile brachten, bildeten dineue gesellschaftliche Basis der neuen königlichen Ordnung. Die von Karl Marx aufgestellte These von der antagonistischen Klassengesellschaft kann man auf die ungarischen Verhältnisse von damals nicht anwenden, die Gesellschaft bestand aus Freien und Unfreien, in unterschiedlichen Variationen. Der König bot das System der nationalen Zusammenarbeit“ der Kirche, den Magnaten und jedem freien Mann an, so auch für die Grundbesitz innehabenden königlichen Dienerschaft und für die Burgbediensteten.

Die Bekräftigung der königlichen Reformpolitik, die Verpflichtung des Königs dafür Garantien zu übernehmen, sowie die Zusammenfassung von Rechten und Pflichten, war in den 31 Paragraphen der Golden Bulle niedergelegt. Einige dieser Paragraphen sind bis heute wirkende Grundsteine der Rechtsbildung, sie beinhalten so tiefgreifende, als

modern geltende Rechte wie die Freiheit des Individuums, seine persönliche und materielle Sicherheit, die Rechtspflege, die Achtung des Privateigentums, den Wehrdienst, die Steuer und die Gesetzgebung und sogar das Recht auf Widerstand bei Missbrauch der (königlichen) Macht.

Das Recht auf Widerstand ist in Ungarn ein seit Tausend Jahren gültiges Recht, seit der Gründung des Staates ein Teil des ungarischen Rechtssystems, und obwohl es in Westlichen Teilen Europas als anachronistisch angesehen wird, auch das geltende Grundgesetz beinhaltet das Recht, gegen die Absichten einer gewaltsamen Machtaneignung aufzutreten. Es wäre gut, wenn man in Brüssel wüsste, dass das Verwaltungssystem basierend auf die ungarischen Komitate (Landkreise) schon bereits 1009 bestand, und auch die eigene Gerichtsbarkeit dieser landkreismäßigen Selbstverwaltung über eine 800 Jahre alte Tradition verfügen würde, wenn die Kommunisten 1950 diese nicht mit einem Federstrich abgeschafft hätten.

Es würde auch nicht schaden, wenn man dort wüsste, dass die Goldene Bulle für Fremde – egal woher sie kamen – die von Stephan dem Heiligen abgeleitete Freiheit genauso garantiert wie für die ungarische Bevölkerung selbst. Dass man jemanden nur dann bestrafen durfte, wenn er nach dem Gesetz für schuldig befunden wurde; dass der König die Steuerfreiheit den Adeligen zugesichert hatte, wofür sie als Gegenleistung „mit ihrem Blut“, also mit dem Militärdienst zahltenDer König ließ „niemanden links liegen“, er gewährleistete auch die materielle und persönliche Sicherheit der Knechte, der Witwen und der Waisen.

Andreas II. beabsichtigte der Goldene Bulle Gültigkeit für die Ewigkeit zu verschaffen. Sie wurde unzählige Male erneuert, die dort stehenden Inhalte wurden seit 1351 bei jeder Krönung bekräftigtdie Könige mussten darauf schwören. Sie galt bis 1848, bis zur Entstehung des bürgerlichen Grundgesetzes als die bevorzugte Rechtsquelle.     

Die Goldene Bulle ist der Ausgangspunkt der gesetzestreuen ungarischen Identität.

Die Ungarn, die als Rebellen galten, haben sich nie gegen ihre Könige aufgelehnt, haben im Laufe der Jahrhunderte nie ihres Widerstandsrecht ausgeübt und manchmal sogar zum Wohle des Vaterlandes darauf verzichtet. Aber sie haben sich daran angehalten, an das Recht, das sie vor Gesetzlosigkeit schützt.     

Autorin, Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung von Dr. Gábor Bayor

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20220502-aranybulla

Bild: Die im Jahr 1351 erneuerte Goldene Bulle

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert