18. Januar 2024 Mandiner von Mária Schmidt
Attila, (um 400-453) war seit 434 bis zu seinem Tod König der Hunnen. In Attila forderte der verachtete, als barbarisch angesehene und ignorierte Osten seinen Platz vom selbstbewussten und verwöhnten Hegemon: Rom.
Am 3. November 2023 fand in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, das zehnte Treffen der politischen Führer der Turkstaaten statt. Die Organisation der Turkstaaten, früher bekannt als Türkischer Rat, ist eine Gruppe von Turkvölkern vom Kaspischen Meer bis zur chinesischen Grenze, eine regionale Gruppe für Zusammenarbeit und Interessenvertretung, zu deren Mitgliedern aufgrund seiner Herkunft und seines sprachlichen Erbes auch Ungarn gehört. Ungarn besitzt keine Vollmitgliedschaft, sondern nur einen Beobachterstatus. Die Mitglieder ließen uns dies jedoch nicht anmerken, sondern umgaben die Ungarn mit Respekt, verwandtschaftlicher Wärme, Vertrauen und Wertschätzung.
Wir Ungarn gelten im Westen als Ostler, im Osten als Westler. Das führt bei den Westlern zu herablassendem Verhalten und Verachtung, bei den Ostlern zu Anerkennung. Letztere sehen unser Überleben und die Annahme unserer Wurzeln als Wert an.
Im Westen werden wir für gefährliche Fremde, Hunnen, Gottes Peitsche, Barbaren gehalten. Bestenfalls werden wir als exotisches, romantisches, aber auf jeden Fall von irgendwo dahergelaufenes Volk gesehen, das eine unverständliche Sprache spricht, sich weigert, seinen ihm zugewiesenen Platz zu akzeptieren, ständig rebelliert, sich wehrt, Widerstand leistet. Für den glorreichen Westen sind wir nichts als Ärger. Sie verstehen auch nicht, dass Ost und West, diese beiden gegensätzlichen, aber sich ergänzenden Welten, bei uns, durch uns aufeinander treffen, sich begegnen. Und das schafft einen enormen Energieüberschuss, fast unbegrenztes Potenzial. Sie können nicht akzeptieren, dass wir halbwegs Ostler sind, welche die Weite der Steppe und den unbändigen Freiheitsdrang des Nomadentums in sich tragen. Wir waren die Einzigen, die sich von der Steppe auf den Weg machten, um sich im Karpatenbecken Land zu nehmen, sich niederzulassen und sich damit in der neuen Heimat zum Alleinsein zu verpflichten.
Unser Gründer, der heilige István/Stephan (ca 975-1038), organisierte auf den Ruinen einer nomadischen Stammesorganisation ein im Geist christliches, aber im Grunde orientalisch verwurzeltes Königreich. Er zwang uns, das Christentum anzunehmen, um Eroberungskriege mit bekehrerischen Absichten zu vermeiden. Der Heilige Stephan erbat und erhielt vom Papst eine Krone, weil er sich weder dem germanischen noch dem byzantinischen Reich unterwerfen wollte. Er hat unser Leben ohne Brüdervölker sogar noch verschlimmert, indem er uns absichtlich auf einen einsamen Weg geführt hat. Seitdem widersetzen wir uns den Eroberern, woher sie auch kommen mögen.
Die ungarische Heilige Krone besteht aus zwei Teilen: dem westlichen oder päpstlichen und dem östlichen oder byzantinischen Teil. Sie symbolisiert die Begegnung von Ost und West, verkörpert unsere staatliche Souveränität und Unabhängigkeit.
UNSERE FREMDARTIGKEIT
Wir haben unsere Sprache aus dem Osten, aus der angestammten Heimat, und ihre Struktur, ihr Aufbau und ihr Wortschatz sind resistent gegen Schubladendenken. Die ungarische Sprache lässt keine unklare Deutung, kein Herumeiern und keine Verschleierung zu, sie ist immer konkret, immer objektbezogen. Der größte Ungar der Reformzeit, István Széchenyi (1791-1860), glaubte, dass die Sprache magischen Einfluss auf die Nation hat und umgekehrt. Aber wir haben nicht nur unsere Sprache, sondern auch unsere Spiritualität und einen Teil unseres Charakters aus dem Osten. Wir haben sie zwar mit der Luft unserer Heimat durchsiebt, aber wir haben uns die Grenzenlosigkeit unserer Phantasie, die Sprunghaftigkeit unserer Stimmungen und die würdevolle Ruhe, mit der wir Gefahren begegnen, bewahrt. Von Letzteren hatten wir schon immer reichlich.
Schließlich leben wir an der Grenze zwischen dem Westen und dem Osten, in einer Kollisionszone, in einer ewigen Gefahrenzone. Ständig im Kampf, manchmal dezimiert, aber nicht gebrochen, und immer in Erwartung eines Wunders.
Es ist bisher immer eingetroffen, wenn auch oft erst in letzter Minute. Unsere Feinde haben uns mehr als einmal zerfetzt, doch wir haben überlebt, und irgendwie sind wir immer wieder zusammengekommen. Bis dahin fanden wir Trost in den Legenden unserer heldenhaften Vergangenheit. Wir warten auf Prinz Csaba. (Der Sage nach half Attilas Sohn, Prinz Csaba, den Szeklern sich zu verteidigen und ihre Heimat in den Karpaten zu finden.)
Seit mehr als tausend Jahren leben wir an der Grenze zwischen zwei Welten. Wir schauen uns misstrauisch um und wundern uns nur selten, denn wir haben bereits alles gesehen und erlebt. Wir besitzen das Erbe und das Wissen um die Unendlichkeit der Steppe. Unsere Vorliebe für Glanz und Glamour ist ebenfalls eine orientalische Eigenschaft, genauso wie unsere Vorliebe dafür, Ereignisse ausgiebig zu zelebrieren. Und doch gehen wir mit Humor und unvoreingenommener Leichtigkeit mit dem Glanz und Rummel um und lassen uns nicht von ihm mitreißen. Denn wir müssen realistisch sein.
Tausend Gefahren, ständiger Ansturm, Druck von allen Seiten lassen sich nur mit Ruhe und Ernsthaftigkeit, mit strategischer Gelassenheit, mit Realitätssinn und Interessenbewusstsein abwehren. Oder zumindest entschärfen, abmildern.
Das ungarische Volk ist ein kämpferisches Volk, wenn es sein muss, aber es ist auch ein zauderndes, ausweichendes, politisches Volk. Geduldig, abwartend, zurückhaltend. Die Tendenz zur Trägheit, zur Kontemplation, zur Unbeweglichkeit, zur Untätigkeit ist unser östliches Erbe. Wir sind schließlich das Land von Pál Pató („ach, wir haben noch Zeit…“). Zweifelnd, achselzuckend, humorvoll, leidensgestählt, jemand, der alles und das Gegenteil von allem und jedem erlebt hat. Lange Untätigkeit, unterbrochen von ein paar plötzlichen eifrigen, impulsiven Taten. Dies sind unsere grundlegenden Eigenschaften. Wir wollen uns nicht um jeden Preis durchsetzen, wir stellen die Familie an die erste Stelle, wir sind Stubenhocker, wir können es nur schwer oder gar nicht mit der Welt aufnehmen, allenfalls in unserer Phantasie.
Der Ungar greift nicht an. Es klammert sich an das Eigene, er begehrt nicht das der anderen. Das Land der Heiligen Krone ist seine Heimat, sein angestammtes Land, das ist, was ihm gehört. Mit seiner Verfassung, mit den Rechten und der Souveränität, die es garantiert. Es ist das, was er verteidigt, wofür er kämpft, es gehört ihm, etwas anderes interessiert ihn nicht.
Er unterwirft sich fremden Ideen, fremden Prinzipien, fremden Phrasen nicht. Das Ungarntum, das Christentum, die Familie, das Heimatland, das von den Vorfahren geheiligte Recht. Diese zählen. Der Rest hinterlässt bei ihm keine tieferen Spuren. Er nimmt die verschiedenen geistigen Erfahrungen auf, prüft und durchforstet sie, aber er lässt sich nicht von ihnen verleiten. Anders als die Deutschen oder die Franzosen oder die anderen Westler, die agil, handlungsorientiert, ungestüm, akquisitorisch, pragmatisch und überideologisiert sind.
Die Aussage des Dichters Mihály Babits (1883-1841) vor fast hundert Jahren ist auch heute noch gültig:
„...für die Ungarn kann auch das Nichtstun eine Berufung sein. Darin sind wir noch mit dem weisen und altbewährten Orient verwandt. Für uns können Opposition und passiver Widerstand eine Berufung sein. Opposition gegen die Macht der Fremdheit, gegen eine Welt, die uralte, heilige Rechte ignoriert, sich vor der rohen Macht des ersten Dahergelaufenen verbiegt und die Freiheit des Einzelnen, die Ruhe der Beobachtung, die Glückseligkeit der Schöpfung nicht duldet […] Der Ungar erweist der Welt den größten Dienst, indem er seine nationalen Eigenschaften bewahrt und bleibt, was er ist. Wir sind eine Nation im alten, geistigen, rechtlichen und sittlichen Sinne des Wortes; nicht eine Rasse unter Rassen und sich tummelnden Völkern […] Wir müssen eine Nation bleiben, eine Seele, frei, edel, schöpferisch, in einer orientalischen Ruhe, die an geistiger Kraft allen trotzt, die sich niemandem unterlegen fühlt.”
WER ATTILA NICHT HABEN WILL
Sowohl im Osten als auch im Westen wird Ungarn als Nachkommen Attilas und der Hunnen betrachtet. Hungary, Ungarn, Ungheria, Hongrie, Hungría, Vengrija. Aber wir wehren uns mit Händen und Füßen dagegen. Warum können wir ihn nicht annehmen? Warum sind wir nicht stolz darauf? Es gibt kaum eine berühmtere historische Figur auf der Welt als Attila. Man erinnert sich an ihn wegen seiner glorreichen Siege, seiner Kühnheit, seiner Tapferkeit, seiner großen Kampfkraft, seiner männlichen Stärke, seines Mutes, seines Organisations- und Führungsgenies.
In Attila forderte der verachtete, als barbarisch angesehene und ignorierte Osten seinen Platz vom selbstbewussten und verwöhnten Hegemon: Rom.
Dennoch ist Attila bei uns nicht oder nur selten Teil unseres historischen Gedächtnisses und des öffentlichen Diskurses. Wir haben keine Statuen von Attila in der Hauptstadt, es werden keine Filme oder Fernsehserien über ihn gedreht, und er wird in unseren Schulbüchern nur kurz erwähnt.
Das ist eine erstaunlich dumme Nachlässigkeit. In China glaubt man, dass die Han-Dynastie und das Han-Volk von den Hunnen, also den Ungarn abstammen, sie seien verwandt. Auch in der turk Welt glaubt das jeder. Unsere alten Chroniken, die Gesta Hungarorum (ca 1190) des Anonymus und die Gesta Hunnororum et Hungarorum (ca 1282) des Simon von Kézai, wissen ebenfalls von der ungarisch-turkischen Verwandtschaft. Unsere angeblich grenzenlos unfehlbaren sachkundigen Vorbeter widerlegen oder belächeln es zumindest. Doch sie haben auch keine genauere Quelle als die mündliche Überlieferung. Es sind keine schriftlichen Aufzeichnungen erhalten. Auch die materiellen Überlieferungen enthüllen nicht wirklich, wie es in früheren Zeiten tatsächlich aussah. Keiner weiß, wie die Sprache der Hunnen war. Nur die mündliche Überlieferung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, bewahrt die mythische Erinnerung an eine längst vergangene Zeit.
Für die Mitglieder eines Volkes, einer Gemeinschaft, ist das Wichtigste der Mythos der Herkunft. Denn er sagt, woher sie kommen, wer sie sind und wohin sie schreiten. Solche, die Ursprungsmythen zerstören, ihre Gültigkeit in Frage stellen, ihre Bedeutung herabsetzen, schaden der ungarischen Nation. Die Urheimat, Hunor und Magor, der wundersame Hirsch, der Turulvogel sind allesamt unsere gemeinsamen Schätze. Das gilt auch für Attila, die Hunnen, Álmos, die sieben Stämme und ihre Anführer sowie Árpád.
Sie sind der Beweis dafür, dass wir Turaner sind, dass wir als Söhne eines tapferen und kriegerischen Volkes ins Karpatenbecken kamen, uns dort erfolgreich niederließen, eine Heimat fanden, die wir bis heute bewahrt haben, und damit unsere Nation erhielten.
Wir widersetzten uns den allfälligen modischen Trends des Westens und hielten an Grundsätzen und Formen fest, die als veraltet oder gar unmodern galten. Endre Ady – einer unserer größten westorientierten (!) Dichter – sah das auch so:„Das ist euer Leben, unsere Brüder, Ungarn. Dass ihr stillsteht und eure harten Schädel nach vorne richtet, nicht um trügerische, bunte Ideale zu empfangen, aber – um zu stechen.“
Deshalb wurden wir von den mehr als tausend Jahren schwer strapaziert. Aber wir sind hier,wir existieren. Wir sind erhalten geblieben. Und wir verteidigen immer noch, was uns gehört. Das ist eine Leistung, die Respekt und Anerkennung verdient.
Es ist an der Zeit, Attila zurückzuholen und stolz auf ihn zu sein!
Autorin, Dr. Mária Schmidt ist Historikerin, Gereneraldirektorin des Terrorhaus-Museums in Budapest
Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin
Bildquelle: Attila-Statuengruppe des Niebelung-Denkmals, Tulln, Österreich
MAGYARUL: https://mandiner.hu/belfold/2023/12/attila-a-mienk-turk-idok
Ein Kommentar
Zur Ergänzung: das Nibelungen Denkmal in Tulln an der Donau zeigt Etzel = Attila und Kriemhild auf Augenhöhe.
https://www.gotech.at/tulln/tullnfotoalbum/tulln_nibelungen.htm
https://www.tulln.at/erleben/sehenswuerdigkeiten/nibelungendenkmal
Die Beurteilung von Attila hat sich im Laufe der Geschichte und aus unterschiedlichen Blickwinkeln oft verändert.