25. April, 2021, ein Interview von Peter Rásonyi und Meret Baumann, in NEUER ZÜRCHER ZEITUNG
Der ungarische Aussenminister, Péter Szijjárto hat am Freitag ein Interview der Neuer Zürcher Zeitung gegeben. Es wurden mehrere Themen berührt, unter anderem die Position Ungarns zum institutionellen Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU, die Probleme Ungarns mit der EU, der ukrainische Konflikt, die Beziehungen zum Russland, die V4 Staaten: also die wichtigsten europäischen Angelegenheiten. Hier können Sie Teile des Gesprächs lesen.
Herr Szijjártó, Sie haben diese Woche Aussenminister Ignazio Cassis getroffen und dabei unter anderem über das institutionelle Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU gesprochen. Was ist die Position Ungarns dazu?
Wir bedauern sehr, dass Grossbritannien die EU verlassen hat. Einen solchen Verlust können wir nur auf zwei Arten zu kompensieren versuchen: durch eine Erweiterung der EU oder indem wir umfassende strategische Partnerschaften mit Drittländern eingehen. Dafür ist die Schweiz die beste Kandidatin. Wenn ich Präsident der EU-Kommission wäre, würde ich ganz sicher ein Abkommen mit der Schweiz unterzeichnen, das die Interessen der Schweiz befriedigt. Die EU braucht Partnerschaften mit so starken Ländern wie der Schweiz. So weit ich das überblicke, geht es dabei auch um die Personenfreizügigkeit. Ich muss gestehen, ich verstehe die Schweiz. Auch Ungarn ist ein Staat, der auf seinem Recht beharrt, selbst zu entscheiden, wer in das Land kommen darf.
Muss die Schweiz den Entwurf einfach akzeptieren oder es dann ganz sein lassen?
Ich mag eine solche Verhandlungstaktik nicht. So geht man mit souveränen Staaten nicht um. Aber die EU geht in vielen Fällen genau so vor. Für mich ist klar: Sowohl die EU wie auch die Schweiz brauchen mehr Kooperation, nicht weniger. Wir sollten die Fehler nicht wiederholen, die gegenüber Grossbritannien beim Brexit gemacht wurden. Manchmal ist ein Ansatz vorteilhafter, der Partnern und Drittländern mehr Respekt entgegenbringt.
Sollte sich die EU also flexibler gegenüber der Schweiz zeigen?
Ja, klar. Wir müssen uns doch fragen, ob es beim Brexit vorteilhaft war, eine rigide Haltung zu zeigen und dadurch einen G-7-Staat als Mitglied zu verlieren? Aber ich möchte auch fair sein. Es ist nicht einfach für die EU-Kommission, solche Verhandlungen zu führen und dabei die unterschiedlichen Interessen von 27 Mitgliedländern zu vertreten.
Ungarn hat ja seine eigenen Probleme mit der EU. Mit Polen zusammen hat eine Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht gegen die neu vorgesehene Verknüpfung rechtsstaatlicher Standards mit der Auszahlung von Finanzmitteln.
Finanzfragen mit politischen Zielen zu verknüpfen, widerspricht nicht nur den Regeln der EU, sondern auch ihrem Geist. Ungarns Politik unterscheidet sich vom westeuropäischen Mainstream, daher verstehen wir, dass es einige gibt, die uns schräg anschauen, genauso wie es einige gibt, die uns unterstützen. Es ist jedoch nicht richtig, etwas als antidemokratisch und als nichtrechtsstaatlich einzustufen, nur weil es nicht der in weiten Teilen Westeuropas herrschenden linksliberalen Ideologie entspricht. Die Verknüpfung vertraglicher finanzieller Fragen mit politischen Ideologien ist für die Einheit der Europäischen Union keineswegs von Vorteil. Deshalb haben wir den Fall vor Gericht gebracht.
Aber Sie erhalten von der EU Gelder im Umfang von rund 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts, und das jedes Jahr. Sollten Sie dafür keinerlei Dankbarkeit zeigen? Erheben Sie einfach Anspruch darauf?
Na ja. Es ist ehrlich gesagt ziemlich beleidigend für uns, dass diese finanziellen Mittel als Grosszügigkeit der westeuropäischen Länder präsentiert werden. Diese Finanzmittel gründen auf einem Vertrag, den wir Ostmitteleuropäer vor unserem Eintritt in die EU akzeptiert haben. Dabei verpflichteten wir uns, unsere von 40 Jahren Kommunismus geschwächten Volkswirtschaften für westeuropäische Unternehmen zu öffnen, die damit riesige Marktanteile mit grandiosen Profiten gewannen. Ein signifikanter Teil der Gewinne fliesst zurück nach Westeuropa. Als Minister zuständig auch für Aussenwirtschaft kann ich sagen, dass wir glücklich sind, dass die ausländischen Unternehmen nach Ungarn kommen, und wir freuen uns auch darauf, dass sie hier erfolgreich und profitabel sind. Aber diese Tatsache muss bei den EU-Finanzmitteln auch berücksichtigt werden. Nur so bekommen wir ein ausgeglichenes Bild.
Das war ein Geben und Nehmen für beide Seiten. Das müssen die Westeuropäer anerkennen.
Aber das EU-Parlament wirft Ungarn vor, ebendiese Regeln zu verletzen, denen es sich beim EU-Beitritt verpflichtet hat.
Ich habe diese Debatten schon so oft geführt. Ich bitte immer, konkrete Beispiele zu nennen. Was für Regelverstösse haben wir uns angeblich zuschulden kommen lassen? Darauf gibt es nie eine Antwort. Wir werden bloss deshalb immer wieder angegriffen, weil wir weit weg vom liberalen ideologischen Mainstream-Denken sind, das in Westeuropa vorherrscht. Sprechen wir doch über Fakten, da gibt es nichts, wofür wir uns schämen müssten.
Der Rechtsstaatsbericht der Europäischen Kommission vom letzten Herbst enthält eine lange Liste von Fakten über Regelverstösse.
Wir sind bereit, zu all diesen Vorwürfen Stellung zu beziehen, sobald sie transparent auf dem Tisch liegen.
Wird dieser Bericht denn irgendetwas ändern in Ungarn?
Schauen Sie sich unser Verhalten in der Vergangenheit an. Üblicherweise gibt es drei mögliche Ergebnisse. Erstens: Wir überzeugen die EU-Kommission, dass sie nicht recht hat. Zweitens: Wir akzeptieren, dass die Kommission im Recht ist, und passen unsere Regeln an. Das haben wir schon oft getan. Oder drittens: Es gibt keine Einigung, und dann beschreiten wir den Rechtsweg. Der Europäische Gerichtshof entscheidet, und wir setzen diese Urteile um. Bei der Zahl der Vertragsverletzungsverfahren liegen wir etwa im Mittelfeld der EU-Staaten. Das wird oft falsch eingeschätzt.
Wird Ungarn ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Rechtsstaatsmechanismus akzeptieren?
Wir haben immer alle Urteile umgesetzt.
Ungarns Platz ist also ohne Zweifel innerhalb der EU?
Natürlich, das ist gar keine Frage. Allerdings bedeutet das selbstverständlich auch, dass wir uns an den laufenden Debatten über Reformen und die künftige Entwicklung der EU beteiligen. Das ist unser gutes Recht. Aber wenn wir Positionen vertreten, die nicht mit den Ansichten in Brüssel oder der Mehrheit der EU-Staaten übereinstimmen, werden wir sogleich als uneuropäisch oder unsolidarisch gebrandmarkt, und es wird uns unterstellt, wir wollten aus der Union austreten.
Der Fidesz hat die Europäische Volkspartei kürzlich im Streit verlassen. Wie laufen die Gespräche zur Beteiligung der Partei in einer neuen Fraktion?
Wir haben eine enge Zusammenarbeit mit der polnischen Regierungspartei PiS. Wir stehen auch der italienischen Lega sowie den Fratelli d’Italia nahe sowie weiteren Parteien im Baltikum und in Zentraleuropa. Es sind Gruppierungen, die eine patriotische Politik vertreten, doch in einer europäischen Art und Weise. Aber eine neue Fraktion ist für uns nicht prioritär. Die Pandemiebekämpfung und die wirtschaftliche Erholung stehen derzeit im Vordergrund.
Welche Ideen und Interessen würde eine solche neue Fraktion im Parlament einbringen?
Wenn es um Umweltschutz, Digitalisierung und Modernisierung geht, haben wir mit der Mehrheitsmeinung in Brüssel keine Differenzen. Aber bei der Migrationspolitik können wir keine Kompromisse machen. Es kann nur den legalen Weg geben, um nach Ungarn zu kommen, und wir entscheiden, wer einwandern darf. In der Gesellschaftspolitik ist für uns klar, dass eine Familie Mutter, Vater und Kinder bedeutet. Diese Sicht werden wir nicht aufgeben. Wir halten das christliche Erbe hoch, das auch in der ungarischen Verfassung verankert ist.
Und schliesslich kommt das nationale Interesse an erster Stelle. «Hungary first», wenn Sie so wollen.
Russland hat Zehntausende von Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen. Beunruhigt Sie das?
Die Ukraine ist unser Nachbar. Wir sind deshalb sehr an einer Lösung interessiert. Als mittelgrosses Land können wir nur Deutschland und Frankreich die Daumen drücken, dass sie im Rahmen des Normandie-Formats basierend auf dem Minsker Abkommen Resultate erzielen.
Wir wollen keinen Krieg in unserer Nachbarschaft, zumal 150 000 Ungarn im Westen der Ukraine leben. Die territoriale Integrität der Ukraine muss sichergestellt sein.
Ungarn unterhält enge Beziehungen zu Russland. Kann Moskau wirklich ein Partner sein angesichts der jüngsten Ereignisse?
Ich hoffe, Sie stellen diese Frage auch in Berlin und Paris. Die Beziehungen von Deutschland und Frankreich zu Russland sind viel enger, wenn man etwa das Handelsvolumen anschaut. Wir stehen Moskau nicht näher als andere westliche Länder. Wir sind an einer pragmatischen Zusammenarbeit interessiert.
Wir nutzen die russische Impfung Sputnik V, weil unsere Experten zum Schluss kamen, dass sie sicher und effektiv ist. Das hat uns ermöglicht, schneller zu impfen als fast alle anderen europäischen Länder. Wenn es um Menschenleben geht, darf Ideologie keine Rolle spielen.
Uns deswegen als russische Agenten hinzustellen, ist abwegig – mittlerweile erwägen auch andere westeuropäische Länder die Anwendung der Vakzine. Aber wir sind das gewohnt. Unsere Positionen werden oft zuerst verteufelt, und dann herrscht Konsens.
Würde Ungarn zusätzliche Sanktionen gegen Russland befürworten?
Bis jetzt gibt es keine entsprechenden Bestrebungen. Aber Ungarn hat in der Vergangenheit einen europäischen Konsens in Bezug auf Sanktionen nie verhindert. Ob diese zielführend sind, ist eine andere Frage.
Das vollständige Interview kann hier gelesen werden.
Bildquelle: https://koronavirus.gov.hu/