Die Europäische Union ist derzeit in einen Zustand der Zersplitterung und Desintegration
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11. September 2025
Vortrag von Viktor Orbán beim XXIV. Bürgerpicknick in Kötcse, am 7. September 2025
Wir sollen darüber sprechen wir, wie die Zukunft Europas bzw. der Europäischen Union aussieht. Es gibt eine Grundzahl. Wenn wir verstehen wollen, wo wir jetzt stehen, und dies räumlich und in historischen Prozessen verorten wollen, dann gibt es eine Grundzahl, die ich jedem empfehle, sich zu merken. Das Jahr der Finanzkrise war 2008, 2008-2009, so nennen wir es. Und wenn man 2008 einen Blick auf die Weltwirtschaft warf, sah man, dass die Vereinigten Staaten 22,9 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Welt ausmachten, während die Europäische Union 25,4 Prozent ausmachte, runden wir ab: 23 gegenüber 25. Wir waren die 25, die Amerikaner die 23.
Wenn wir uns die Weltwirtschaft im Jahr 2025 ansehen, werden wir feststellen, dass die Amerikaner 26,8 Prozent, sagen wir 27 Prozent, der gesamten Weltleistung ausmachen und wir Europäer 17,6 Prozent. Von 2008 bis 2025! Das ist die historische Zeit, der historische Prozess, in dem wir Europäer leben.
Von 2008 bis 2025 haben die Amerikaner ihren Anteil an der Weltwirtschaft um 4 Prozent gesteigert, während die Europäische Union 8 Prozent verloren haben.
Dies zeigt deutlich, dass es nicht zwangsläufig so sein muss, dass wir dort stehen, wo wir jetzt stehen. Denn 2008 waren wir noch auf Augenhöhe mit den Amerikanern. Dass wir nicht dort stehen wie die Amerikaner, ist nur darauf zurückzuführen, dass die Europäer schlecht geführt wurden. Wären sie genauso gut geführt worden wie die Amerikaner, wären wir dort, wo wir waren, also in etwa gleichauf, Kopf an Kopf mit den Amerikanern. Dass dies nicht der Fall ist, ist ausschließlich auf die verfehlte europäische Politik zurückzuführen.
Und auf diesen Fakten basiert meine These, die ich Ihnen nun vorstellen möchte.
Ich bin der Meinung, dass die Europäische Union derzeit in einen Zustand der Zersplitterung und Desintegration geraten ist. Wenn es so weitergeht, und das ist wahrscheinlicher, dann wird die Geschichte der Europäischen Union als das traurige Ergebnis eines edlen Versuchs in die Geschichte eingehen.
Die Situation ist so, dass die Ära der Europäischen Union, die Periode ihrer Existenz, dann aus einer bestimmten historischen Perspektive betrachtet, zu einer Zeit des Niedergangs und der Bedeutungslosigkeit des europäischen Kontinents werden wird, so werden wir es sehen.
Was war das Ziel? Denn offensichtlich war dies nicht das Ziel, für das wir die Europäische Union gegründet haben. Als wir die Europäische Union gründeten, setzten wir uns folgende Ziele. Erstens sollte die Europäische Union zu einem Faktor in der Weltpolitik und Weltwirtschaft werden. Noch 2008 rechtfertigten die Wirtschaftszahlen dies. Der Plan war, die größte Freihandelszone der Welt zu schaffen. Das wurde so beschrieben: von Lissabon bis Wladiwostok. Damit wären Russland, das Vereinigte Königreich, die Türkei, der Kaukasus und der Balkan einbezogen worden. Das hätten wir aufbauen müssen, aber es ist uns nicht gelungen.
Was ist stattdessen passiert? Das Vereinigte Königreich ist ausgetreten. Die Russen sind gegangen oder wir haben sie in die Arme der Chinesen getrieben – das spielt jetzt keine Rolle mehr –, aber sie stehen auf der Seite Chinas, und die Hoffnung, dass es früher oder später zu einem Konflikt zwischen den Russen und den Chinesen kommen wird, ist eine völlig unseriöse, illusorische, trügerische Hoffnung, denn wenn man sich die Struktur der russischen und der chinesischen Wirtschaft ansieht, wird man feststellen, dass es sich nicht um konkurrierende, miteinander rivalisierende Wirtschaftsstrukturen handelt, sondern um komplementäre, die sich auf die einfachste Weise miteinander verbinden lassen.
Die Hoffnung, dass sich die Russen und die Chinesen bekämpfen werden und dies Europa wieder Spielraum verschafft, ist hier also ein völliges Missverständnis der Struktur der beiden Volkswirtschaften.
Wie dem auch sei, wir konnten Russland nicht auf unserer Seite halten und haben auch die Türken in dieser Grauzone zurückgelassen, worüber wir hier nicht weiter sprechen müssen.
Warum ist der große europäische Plan gescheitert? Warum ist es nicht gelungen, Europa zu einem Faktor in der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu machen?
Darauf gibt es eine sehr einfache, fast schon banale Antwort. Vor dreißig Jahren war die Europäische Union noch keine Europäische Union, sondern ein gemeinsamer Markt, nur ein gemeinsamer Markt. Die Idee war, aus diesem gemeinsamen Markt eine wirtschaftliche und politische Union zu machen. Und das ausgewählte Mittel zur Schaffung dieser wirtschaftlichen und politischen Union war der Euro, also die gemeinsame Währung. Früher oder später werden alle zum Euro übergehen, wir werden eine gemeinsame Währung haben. Wenn wir eine gemeinsame Währung haben, werden wir einen gemeinsamen Haushalt haben,
wenn wir eine gemeinsame Währung und einen gemeinsamen Haushalt haben, werden wir einen gemeinsamen Staat haben, die Vereinigten Staaten von Europa, eine wirtschaftliche und politische Union.
Das Problem ist, und deshalb ist das Projekt gescheitert, dass es zwar eine gemeinsame Währungspolitik gibt, da es eine gemeinsame Währung für die Länder gibt, die zum Euro gehören, aber keine gemeinsame Haushaltspolitik. Und egal, was ich in der Welt lese, egal, welchen Ökonomen ich lese, alle sind sich einig, dass es nicht möglich ist, eine gemeinsame Währungspolitik zu haben, ohne dass dahinter eine gemeinsame Haushaltspolitik steht. Es ist nur eine Frage der Zeit, sagen alle, die sich mit dieser Frage beschäftigen, bis dies knirscht, bröckelt, zerbricht, denn auf lange Sicht kann es so nicht bleiben.
Daraus folgt, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir vor der Aufgabe stehen, den Haushalt der Europäischen Union für den Zeitraum 2028-2035 aufzustellen, und ich möchte die These aufstellen, dass selbst wenn es gelingt, diesen Haushalt zu verabschieden, woran wir ernsthafte Zweifel haben, aber selbst wenn dies gelingt, wird dies der letzte Siebenjahreshaushalt der Europäischen Union sein. Das ist das Ende der Geschichte, wenn es so weitergeht. Ich werde gleich darüber sprechen, ob es so weitergehen muss. Aber wenn es so weitergeht, können wir vielleicht noch einen Haushalt aufstellen – die Ukraine-Krise hat uns sehr durcheinandergebracht –, aber ich halte es für völlig unmöglich, den nächsten Haushalt für nach 2035 aufzustellen.
Daraus folgt,dass die Eurozone auseinanderbrechen wird. Das wird ein chaotischer und kostspieliger Prozess sein.
Gibt es einen Ausweg?
Was ich jetzt meine, ist ein theoretischer Ausweg. In der Politik ist Theorie nicht nutzlos, denn im besten Fall dient sie als Kompass oder Wegweiser für das Handeln. Bei dem, worüber ich spreche, geht es also nicht darum, ob es realistisch ist, sondern darum, ob es intellektuell möglich ist, die Aufgabe zu lösen, dass die Europäische Union trotz ihrer derzeitigen Lage nicht auseinanderfällt, sondern in irgendeiner Form zusammenbleiben kann. Und darauf können wir intellektuell antworten: ja, das ist nicht unmöglich. Aber damit die Union nicht auseinanderfällt und dies nicht ihr letzter Haushalt ist, muss die Europäische Union grundlegend neu organisiert werden, denn im Übrigen nehmen die spaltenden Kräfte heute immer mehr zu, während die zusammenhaltenden Kräfte immer mehr abnehmen. Durch eine Umstrukturierung kann dies umgekehrt werden, die Mehrheit der Mitgliedstaaten kann daran interessiert werden, in der Union zu bleiben, und die Zahl derjenigen, die in den nächsten zehn Jahren ein Interesse daran haben werden, dass die Union auseinanderfällt, kann verringert werden. Dazu muss eine sehr ernsthafte Umstrukturierung durchgeführt werden.
Die Europäische Union muss in eine kreisförmige Struktur umgewandelt werden.
Das ist nicht dasselbe wie ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bedeutet nämlich, dass wir in einem Auto sitzen, einen Gangschalter haben, nur mit unterschiedlicher Geschwindigkeit fahren wollen, aber das Ziel, zu dem wir fahren, ist dasselbe. Das ist nicht das, worüber ich spreche. Ich spreche von einem zirkulären Europa, an dessen Rand sich diejenigen Länder befinden, die nur in zwei Bereichen zusammenarbeiten wollen, nicht in mehreren, aber in diesen beiden. Das eine ist die militärische Sicherheit, das andere die Energiesicherheit. In diesem Kreis können sich die Türkei, das Vereinigte Königreich und, horribile dictu, auch die Ukraine bequem einordnen.
Der zweite Kreis, der enger ist als dieser, ist der gemeinsame Markt. Die Gruppe der Länder, die einen gemeinsamen Markt miteinander bilden wollen. Sie wollen mehr als nur militärische und energetische Zusammenarbeit, sie wollen einen gemeinsamen Markt, so wie er früher war und wie er jetzt ist.
Der dritte Kreis umfasst die Länder,die nicht nur einen gemeinsamen Markt, sondern auch eine gemeinsame Währung wollen. Diejenigen, die eine gemeinsame Währung haben, die Eurozone, werden folglich auch einen gemeinsamen Haushalt haben.
Und innerhalb dieser Gruppe gibt es noch eine vierte Gruppe, nämlich die Länder, die nicht nur einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung wollen, sondern auch ihre Ideen und Prinzipien politisch aufeinander abstimmen wollen: Gender, Migration, Rechtsstaatlichkeit, zahlreiche Fragen, bei denen sie gemeinsam bestimmte politische Prinzipien verfolgen wollen. Und auch die Auslegung dieser Grundsätze ist identisch, und sie können gerichtlich durchgesetzt werden. Energie und Sicherheit, gemeinsamer Markt, Eurozone, politische Union.
Wenn wir zu einem solchen System übergehen können, dann kann die große Idee der europäischen Zusammenarbeit, die wir Europäische Union nennen, die nächsten zehn Jahre überleben. Wenn wir diesen Übergang nicht schaffen, sondern so weitermachen wie bisher, dann lautet meine These, dass wir vielleicht noch den letzten Haushalt aufstellen können, aber dann ist Schluss, dann zerfällt die Union.