10. Dezember 2024 Interview mit dem Vorsitzenden der ungarischen Grünen (LMP), Cicero
Die ungarischen Grünen verließen die Europäische Grüne Partei (EGP). Im Interview für Cicero spricht ihr Vorsitzender und Parlamentsabgeordneter Péter Ungár über die Illusionen der Elektromobilität, Meinungsverschiedenheiten in der Migrationspolitik und die Arroganz westeuropäischer Grüner.
- Herr Ungár, Ihre Partei hat sich dazu entschieden, die Europäische Grüne Partei (EGP) zu verlassen. In einer Erklärung heißt es, dass die „West-Grünen“ den grünen Wandel primär in ihren Kernländern vorantreiben möchten. Was meinen Sie damit?
In Ungarn gibt es durch den „Green Deal“ der Europäischen Union einen enormen Anstieg an Fabriken, die Batterien für Elektroautos produzieren. Die Fabriken sind allerdings sehr schädlich für die Umwelt; sie haben einen sehr hohen Wasserbedarf und stoßen Chemikalien in die Luft aus. Auch unsere Gewässer werden verschmutzt. Die ungarische Bevölkerung möchte das schlichtweg nicht. Den größten Profit machen vor allem nicht-ungarische Automobilkonzerne, die ihre Autos im Wesentlichen auch in Westeuropa und weniger in Ungarn verkaufen. Für uns ungarische Grüne hat das rein gar nichts mit Klimaschutz zu tun. Das haben wir unseren grünen Partnern aus Westeuropa immer wieder gesagt. Es war ihnen allerdings völlig gleichgültig.
- Wie stehen Sie der Elektromobilität als Technik grundsätzlich gegenüber?
Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Elektromobilität. Gewiss kann sie ein kleiner Puzzlestein in der Zukunft des umweltfreundlichen Verkehrs sein; doch zu behaupten, dass der komplette und alleinige Umstieg auf die Elektromobilität alle Klimafragen lösen würde, hat keinerlei wissenschaftliche Grundlage. Schauen Sie: Auch Serbien leidet unter Umweltverschmutzungen, da dort Lithium für den Markt mit Elektroautos abgebaut wird. Doch das interessiert beispielsweise all die deutschen, niederländischen oder schwedischen Grünen nicht. Ihnen ist lediglich wichtig, dass sie ihre Elektroautos in Berlin, Amsterdam oder Stockholm als Statussymbol fahren und sich als moralisch gute Menschen fühlen können.
- Empfinden Sie die Europäische Grüne Partei als überheblich und arrogant im Umgang mit osteuropäischen Perspektiven?
Ich möchte nicht nur über die Europäischen Grünen sprechen, da es ein Problem der gesamten Europäischen Union ist. Die wirtschaftlich prosperierenden Länder im Westen Europas, die keine 50 Jahre lange Geschichte des Kommunismus durchlaufen mussten, glauben immer noch, dass ihnen die Europäische Union gehört. Alle Interessen oder Standpunkte, die dem westeuropäischen Mainstream nicht entsprechen, werden als Aussatz behandelt. Das betrifft fast alle europäischen Institutionen.
- Trifft das auch auf die deutschen Grünen zu?
Bei den westeuropäischen Grünen nehme ich eine starke Kluft zwischen Politikern der älteren und der jüngeren Generation wahr. Immer wieder ist es zwischen uns Ungarn und beispielsweise deutschen Grünen ein Streitpunkt gewesen, wie weit die Integration der Europäischen Union vorangehen sollte. Wir Ungarn sind gegen einen europäischen Superstaat, da das in uns böse Erinnerungen an die Zeit des Kommunismus weckt. Während ältere Grüne aus Westeuropa eine gewisse Sensibilität dafür haben, bezeichnen junge Grüne uns Ungarn als „Nationalisten“ oder „Faschisten“.
- Wie sollte Ihrer Meinung nach die Europäische Union in Zukunft konzipiert sein?
Ich bin der Meinung, dass wir souveräne Nationalstaaten brauchen, die als europäische Partner gut kooperieren. Allein diesen Standpunkt zu vertreten, eckt bei vielen Westeuropäer schon an. Viele jüngere Grüne aus Westeuropa wünschen sich, dass Brüssel am besten die Entscheidungen für alle Länder übernimmt. Dabei haben zentralistische Superstaaten, welche die starken föderalen Bedürfnisse und politische Eigenheiten ignorieren, in der Geschichte nie funktioniert.
- Außerdem kritisieren Sie, dass die EGP zur „radikalsten Vertreterin eines zersplitternden progressiven Konsenses“ geworden sei. Haben Sie Beispiele dafür?
Mitglieder der Jugendabteilung der ungarischen Grünen waren bei einem Workshop für junge europäische Grüne, die sich darüber gestritten haben, warum wir über die Einführung einer fünften Geschlechtsidentität sprechen müssen. Meine persönliche Meinung ist, dass Menschen nur zwei Geschlechter haben: Frauen und Männer. Das ist eine biologische Realität, die nicht geleugnet werden kann. Mittlerweile gehört der Glaube allerdings zur grünen Bewegung in Westeuropa, dass es unendlich viele Geschlechter gebe. Ich habe mich allerdings für die grüne Partei in Ungarn entschieden, da ich ein sehr wissenschaftsinteressierter Mensch bin. In meinem Verständnis sollten Wissenschaftlichkeit und Grün-Sein Hand in Hand miteinander gehen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Identitätspolitik hat einen ehrenwerten Impuls, wenn es darum geht, Minderheiten vor jahrzehntelangen Diskriminierungen zu befreien. Schauen Sie: Ich bin der erste homosexuelle Politiker im ungarischen Parlament, der sich offen zu seiner sexuellen Orientierung bekannt hat. Wenn sich Identitätspolitik allerdings immer mehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen entfernt, führt sie allerdings ein anti-aufklärerisches Eigenleben, das viele Bürger eher befremdet.
- Apropos Wissenschaftlichkeit: Allen voran waren es die Grünen in Deutschland, die den Ausstieg aus der Kernenergie in einer historischen Mission vorangetrieben haben. Nun hat Deutschland keine klimafreundlichen Atomkraftwerke mehr, aber es baut immer noch reichlich Kohle ab. Ist das für Sie aus Gründen des Klimaschutzes ein Widerspruch?
Wissen Sie, ich möchte die Energiepolitik Deutschlands nicht kommentieren. Für uns Ungarn ist es schwierig, darauf eine Antwort zu geben. Unsere Atomkraftwerke werden in einem sehr anrüchigen Deal von Russland gebaut. Auch Korruption spielt bei diesem Deal eine große Rolle. Deswegen ist aus meiner ungarischen Perspektive die Frage der Atomkraft eng verknüpft mit geopolitischen Erwägungen und der Frage, wie abhängig wir uns von Russland machen sollen.
- Die Grünen in Deutschland unter Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sind gegen einen konsequenten Schutz der deutschen Grenzen in Migrationsfragen. Haben Sie in Migrationsfragen unterschiedliche Standpunkte?
In Migrationsfragen vertreten die ungarischen Grünen einen komplett anderen Standpunkt als die Grünen in Deutschland. Es gibt kein Menschenrecht, dass jeder Mensch hingehen kann, wo immer er auch hingehen möchte. Wir verteidigen die Genfer Flüchtlingskonvention. Das bedeutet, dass wir als sicheres Drittland Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen. Wir sind aber nicht das erste sichere Land, wenn Menschen aus Syrien oder Afghanistan fliehen. Das ist geografisch nicht der Fall, und deswegen haben wir Ungarn auch nicht die Verpflichtung dazu, diese Menschen aufzunehmen.
- Haben Sie schon einmal versucht, die deutschen Grünen von Ihrem migrationspolitischen Standpunkt zu überzeugen?
Ich habe bereits vor langer Zeit damit aufgehört, grüne Politiker aus westeuropäischen Ländern von meinen migrationspolitischen Standpunkten überzeugen zu wollen. Es interessiert die Mehrheit nicht wirklich, was wir Ungarn denken.
- Können Sie den Unmut vieler deutscher Staatsbürger über die Migrationspolitik der Ampelkoalition verstehen?
Ja, definitiv. Ein Staat darf Menschen nicht einfach aufnehmen, ohne vorher ihre Identität erfasst und einen Sicherheitscheck durchgeführt zu haben. Für das, was ich nun sage, würde ich in Deutschland wahrscheinlich als „Rechter“ beschimpft werden: Wenn ein Mensch Asyl begehrt und gleichzeitig eine Straftat begeht, muss er unter allen Umständen abgeschoben werden. Flüchtlinge sind in einem Land Gäste, und es kann nicht sein, dass sie sich nicht an die Regeln des Aufnahmelandes halten. Womöglich werde ich in Deutschland nun als „Nazi“ diffamiert werden, doch in Ungarn ist dieses Denken unter progressiven Politikern absolut normal. Aus ungarischer Perspektive ist es interessant zu sehen, wie schnell man im deutschen Diskurs in bestimmte Kategorien eingeordnet wird.
- Das ist eine sehr spannende Beobachtung. Worauf führen Sie das zurück?
In den USA hat Rob Henderson den großartigen Begriff „Luxury Belief“ in den Diskurs gebracht. Ein Luxusglaube ist eine persönliche Meinung, die Mitgliedern der Oberschicht zu geringen Nachteilen Status verschafft, während sie Personen in der Mittel- oder Unterschicht Kosten verursacht. Viele vermeintlich progressive Menschen in Westeuropa vertreten die „Open Border Ideology“, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt sind, sondern sie betrachten sich dadurch selbst als Teil einer avantgardistischen Elite. In osteuropäischen Ländern sind die Grünen und Sozialdemokraten näher bei der Bevölkerung und vertreten politisch daher auch deren Standpunkte. In westeuropäischen Ländern empfinden progressive Aktivisten „normale“ Arbeiter oftmals als befremdliche Wesen.
- Wie haben Sie im Kreis der europäischen Grünen die Debatten über den anhalten Krieg im Nahen Osten erlebt? Die ungarischen Grünen gelten als große Unterstützer Israels.
Im Gegensatz zu den Grünen aus anderen westeuropäischen Ländern sind die Deutschen dezidiert für Israel und verurteilen den Terrorismus der Hamas und Hisbollah scharf. Diesbezüglich erlebe ich bei den anderen westeuropäischen Grünen schräge Ansichten.
- Die deutschen Grünen und allen voran die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock gehören zu den energischsten Befürwortern von umfangreichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie betrachten Sie das aus einer ungarischen Perspektive?
In meinen Augen ist der Krieg in der Ukraine auch eine Schicksalsfrage für Ungarn. Wir haben eine direkte Grenze zur Ukraine. Die Orbán-Regierung sieht das ganz anders und kritisiert immer wieder Westeuropa für seine Unterstützung für die Ukraine. Ich schätze das Engagement der deutschen Regierung; allerdings erleben wir, dass sie gut darin sind, große Ankündigungen lautstark zu verkünden, die sie am Ende gar nicht einhalten können.
- Ihre Mutter Maria Schmidt ist in der Fidesz-Partei und eine Vertraute des ungarischen Premierministers Viktor Orbán. Sie sind Vorsitzender der ungarischen Grünen. Haben Sie viele Konflikte in der Familie?
Diese Frage wurde mir schon sehr oft gestellt. Insbesondere mit Blick auf den Krieg in der Ukraine haben wir sehr unterschiedliche Standpunkte. Ich respektiere unsere Meinungsverschiedenheit, aber stehe deutlich energischer auf der Seite der Ukrainer. Meinungsverschiedenheiten muss eine Familie vertragen können.
Das Gespräch führte Clemens Traub, Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.
Quelle: https://www.cicero.de/aussenpolitik/vorsitzender-der-ungarischen-grunen-peter-ungar-migration-eu
Ein Kommentar
Sehr geehrter Herr Ungár,
ich bin kein deutscher „Grüner“!!! Wegen meines gesunden Menschenverstandes und des mathematisch-Naturwissenschaftlichen Wissens werde ich auch von diesen als NAZI beschimpft. Willkommen im Klub.
Ich habe genugtuend festgestellt, dass wir eine große Schnittmenge in unseren Meinung haben.
Liebe Grüße
Schneider Bernd
Diplomlehrer für Physik und Mathematik in Rente