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Botschafter der liturgischen jüdischen Musik: Andor Izsák

13. November 2024 Vasárnapi Újság

Andor Izsák ist ein Orgelvirtuose, Musikwissenschaftler, Dirigent. Er wurde im Budapester Ghetto 1944 geboren. Heute ist er Botschafter der liturgischen jüdischen Musik in Deutschland und sogar in ganz Europa. Er erforschte und belebte die im Land der Nazis verstummten, später vergessenen Werke der Synagogale Musik und des Chorgesangs. Für sein Lebenswerk wurde er 2024 mit dem Ritterkreuz des Verdienstordens der ungarischen Republik ausgezeichnet.

„Meine Atmung setzt von der ganzen Geschichte ein wenig aus. Als nichtungarischer Staatsbürger so eine hochrangige, ungarische Auszeichnung zu erhalten und sie vielleicht im zehn Meter Abstand von der heiligen Krone der Ungarn, vom königlichen Zepter und von allen, die die ungarische Identität bedeuten, worauf wir stolz sind, zu übernehmen, ist keine alltägliche Sache.

Ich wurde 1944 in einer jüdischen Familie im Budapester Ghetto geboren. Ganz nahe zu meinem Kopf explodierte eine Bombe, das ganze Haus stürzte auf mich. Ich war ein hässliches, kränkliches Kleinkind und lag in meinem Kinderwagen. Der war ein altmodischer Wagen mit Rollläden, bei der Explosion fiel ein Fensterladen drauf und dieser Fensterladen fing die große Menge Backsteine, Gläser auf, die da herunterstürzten. Die Bombe zerstörte alles vollständig, das Gebäude und meine ganzen, sensiblen Organe, aber ich blieb am Leben.

Der liebe Gott sandte mir vom Himmel mit dieser Bombe das absolute Gehör, wodurch gleich festgelegt wurde, in welcher Richtung ich mich entwickeln werde.

Ich wurde in einer orthodox-jüdischen Familie geboren, was so viel bedeutete, dass ich keinen Fuß in eine christliche Kirche setzen durfte. Ja, aber meine Eltern nahmen mich jeden Sonntag um drei Uhr ins Kino mit, und im Kino sahen wir einmal den Film „Der kleine Dirigent“. Der Film fing mit den Tönen der Orgelmusik in einer Kirche an, mit Bachs Werk „Toccata und Fuge in d-Moll“, und mir wurde durch diese Töne ganz schwindlig. Diese Laute begleiten mich bis heute, das brachte mich und hielt mich auf meiner musikalischen Laufbahn. Mit 13 spielte ich die Orgel in der Synagoge, dann studierte ich auf dem Konservatorium, lehrte dann, machte Musik, gründete einen Chor.   

Wie war die jüdische Gemeinde um diese Zeit in Ungarn? Der Zusammenhalt war sehr stark ausgeprägt, die Leute waren gutsituiert. Es reicht die Synagoge in der Dohány utca in Budapest anzuschauen, sie symbolisiert, wie stolz die ungarischen Juden sind, wie sehr sie bemüht sind zu zeigen, zu was sie fähig sind.

Es ist unglaublich, aber sowohl in Amerika, als auch in den europäischen Großstädten haben alle bedeutendere Orchester Ungarn als leitende Dirigenten. Warum wenden sie sich der Musik zu? Woher haben sie die Talente?

Ich zog 1988 nach Deutschland um. Witzigerweise könnte ich sagen: „cherchez la femme“, suche die Frau. Meine Ehefrau, Erika Lux, Pianistin (die mit dem Verdienstkreuz Ungarns ausgezeichnet wurde) war bereits damals eine bewunderte Persönlichkeit. Ich kannte sie nur von der Titelseite der Radiozeitung. In dieser  Zeit  gründete  ich gerade die ungarische Sektiondes Music Information Centers (MIC), mit dessen Hilfe ich internationale Kontakte knüpfen konnte. Erika erzählte jemandem, dass sie vor ihrer Japan-Turnee eine Kopie von einem Tonband benötige. Dieser jemand sagte ihr, dass ich die Möglichkeit dazu hätte. Erika war verwundert, dass ich das kann. Wir telefonierten, ich habe die Kopie angefertigt, so lernten wir uns kennen. Dann verging nicht allzu viel Zeit und wir heirateten.

In Deutschland nahm ich zunächst an der Gründung des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik (EZJM) in Augsburg teil, dann ging ich nach München, um schließlich in Hannover zu landen.

Das EZJM gehörte zu der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, hier initiierte ich das Fach „Musik in der Synagoge“ und wurde später Professor dieses Faches.

Ich gründete den Chor der Synagoge in Hannover und es gelang mir, dem EZJM einen neuen Sitz unter der Schirmherrschaft der Seligmann-Stiftung in Hannover zu sichern.

Ich wollte eigentlich, dass die Deutschen ihre jüdische Kultur kennenlernen. Was sie alles im Holokaust zerstört hatten! Gebäuden, Einrichtungen, Orgel, Musiknoten, Schallplatten gingen verloren.

Ich begann mich mit der aus Deutschland verschwundenen, liturgischen Musik zu beschäftigen. Es gab eine Menge jüdische Komponisten, die Musik für Konzerte komponiert hatten, Klavierstücke, Kammermusik, wunderbare Sachen, nur niemand kannte sie. Wir wussten nicht, wer diese Komponisten waren, also musste ich zunächst nach Namen suchen, dann Musiknoten auffinden, so kam es, dass ich eine ganz neue Welt entdeckte. Alexander Tasman, Moritz Moszkowski und andere, die man zu den sog. Salonmusikern zählte. Moszkowski zum Beispiel war zu seiner Zeit der größte Virtuose am Klavier.

Die wichtigste Aufgabe war der Aufbau eines Netzwerkes, und wenn irgendwo eine kleine Glocke zu hören war, dann musste man dorthin fahren. Und ich habe das getan. Nach Südafrika, nach Kapstadt, weil ich gehört habe, dass die Orgel der Leipziger Synagoge dort zu finden wäre. Und sie war dort! Ich fand sie in einer Garage. In Philadelphia entdeckte ich in einem Keller die Spuren der liturgischen Musik. Eine Zeit lang musste man sich sehr umtun, kratzen, tief schürfen, bis sich langsam herausstellte,

dass es hier einen verrückten Kerl gibt, der die Musik sucht, die niemand möchte. Da begann man mich zu suchen. Es entstand meine wunderbare, handschriftliche Sammlung.

Letztendlich war mein tatsächliches Ziel, dass ich zumindest diese Musik konserviere. Wenn sich niemand dafür jetzt interessiert, wenn niemand sie zur Zeit benötigt, dann lassen wir trotzdem die Möglichkeit für die in 100 oder 200 Jahren später lebenden Generationen bestehen. Damit sie dieses Wunder kennenlernen können, das die musikalische Kultur in den Synagogen in Europa, Ungarn, Deutschland, Frankreich, England bedeutete.

Wie die Lage der jüdischen Gemeinde heutzutage in Deutschland ist? Das deutsche Judentum wurde vernichtet, das gibt es nicht mehr. Einst versuchte man die aus der Sowjetunion nach Israel auswandern wollenden Juden beim Umsteigen in Frankfurt nach Deutschland zu locken. Wenn diese nicht gekommen wären, wäre das Judentum in Deutschland vollständig erloschen. So entstand eine, hauptsächlich russisch-jüdische Diaspora, die selbstverständlich eine eigene Kultur hat. Aber diese Kultur ist mit der deutschen Kultur nicht gleich und genauso nicht mit der jüdischen Kultur, die in Deutschland früher existierte. Die gegenwärtige jüdische Gemeinde ist eine, die keine jüdische Tradition in der Vergangenheit hatte, weil es in der Sowjetunion so eine nicht gab. Eigentlich wird dieses Judentum jetzt neu geboren. Diejenigen, die ein Feindbild nötig haben, die suchen um jeden Preis irgendeine Minderheit, einen Sündenbock, bei denen man sieht, dass sie keine Deutsche sind. Diese sind die russischen Juden, also doppelt unsere Feinde, dann kommen die Bedrohungen und der tiefe Hass. Das entscheidet alles.

Das ist ganz dramatisch, denn wenn wir uns umschauen, zum Beispiel in Frankreich, dort ist die Situation nicht anders. Das ist ein sehr großes Problem, weil man durch die Unwissenheit zwei Begriffe, nämlich jüdisch und israelisch, verwechselt.

Wenn es in Israel Gewalttaten gibt, beginnen sofort Demonstrationen gegen die Juden, die Juden sind an allem schuld. Israel ist weit weg, die Juden leben aber hier um die Ecke, also los!

Ich gebe die  Hoffnung  nicht  auf,  dass diese unsinnigen Kriege, Feindseligkeiten, Kämpfe zwischen den Religionen und Nationen aufhören. Die Feindseligkeiten sind nur dafür gut, dass wir unseren  menschlichen Stolz aufgeben. Ich hoffe, dass sich dies vielleicht durch die Wirkung meiner Musik ein klein wenig ändern wird.

Heutzutage ist der Zustand der deutsch-ungarischen Beziehungen vorsichtig formuliert variabel. Trotzdem besteht auf der Basis der Individuen, der einzelnen Personen, das Bestreben, dass wir eine Einheit bilden könnten, dass unsere persönlichen Beziehungen gut bleiben. Ich glaube, in Kenntnis der Hintertüren ist es leichter denjenigen eine Bewegungsmöglichkeit zu geben, die diese guten Beziehungen suchen. Wir sind mit meiner Frau deutsche Staatsbürger, wir haben keinen ungarischen Pass, weil in der damaligen Zeit, als das zur Entscheidung anstand, man keine zwei Pässe haben konnte. Aber wir bekannten uns immer stolz dazu, dass wir Ungarn sind. Wir wollen die Stützpfeiler jener Brücke sein, die die deutsch-ungarische Freundschaft verbindet.

Der mit dem Ritterkreuz des Verdienstordens Ungarns ausgezeichnete Orgelkünstler Andor Izsák und seine Ehefrau, mit dem ungarischen, goldenen Verdienstorden ausgezeichnete Erika Lux sind Professoren im Ruhestand an der Musikakademie Hannover.

Andor Izsák sprach am 23. Juni in der Sendung Vasárnapi Újság von Rádió Kossuth über die entscheidenden Momente seines Lebens

MAGYARUL: https://nava.hu/id/4255792/ 10. PERCTŐL

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