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Balaton-Brigade

10. August 2024 György Dalos

Berlin/DDR 1988: Josef Klemper, ein verdienter Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), bekommt einen schon lange gewünschten Auftrag. Im kommenden Jahr wird er an den Plattensee delegiert, um dort in Zusammenarbeit mit den ungarischen „Bruderorganen“ und einer Schar von IMs auf den Campingplätzen, in den kleinen und größeren Ferienunterkünften die Urlauber zu überwachen. Aussschnitt aus dem Roman von György Dalos: Balaton-Brigade

„…Im Büro des abwesenden Polizeipräsidenten empfing uns ein junger Leutnant. Er stellte sich hurz vor und sagte in vollendetem, fast völlig akzentfreiem Deutsch: „Genosse Oberst Farkas läßt den Genossen seine tschekistischen Kampfesgrüße überbringen. Wir haben hier ein Ehepaar aus einer Zwickauer Reisegruppe. Sie hatten die Republikflucht geplant, und einer von Ihren Inoffiziellen Mitarbeitern hat in ihrem Hotelzimmer eintausendfünfhundert Westmark und zwei westdeutsche Reisepässe gefunden. Der Tatbestand ist sonnenklar.

Genosse Oberst Farkas läßt ausrichten, daß er sich mit einem Bein in der Rente befindet. Dieser Vorgang ist sein letzter Dienst im Rahmen der Waffenbrüderschaft. Er ist der Auffassung, daß dies möglicherweise seine letzte Auslieferung sein wird.“ Der junge Mann räusperte sich und ergänzte: „Ich betone, werte Genossen, daß es sich dabei um die Worte des Genossen Oberst Farkas handelt. Was mich angeht, so ist mir der Vorgang als solcher eher egal. Ich bin kein Tschekist – ich bin ein stinknormaler Bulle. Ich brauche Ihre Flüchtlinge wie einen Pickel am Hintern. Nebenbei gesagt, sind sie nach unseren Gesetzen unschuldig, und ihren westdeutschen Paß müssen wir akzeptieren. Nicht einmal ein Devisenvergehen können wir ihnen anhängen. Westdeutsche Staatsbürger haben westdeutsches Geld – was denn sonst? Langer Rede kurzer Sinn: Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Wenn Sie wollen, lasse ich die beiden sofort laufen. Wenn nicht, unterschreiben wir ein Protokoll und übergeben sie der Grenzwache.“

Sympathisch waren die beiden ganz bestimmt nicht, soviel war klar. Ich hatte fast ein wenig Mitleid mit ihnen, weil sie so dämlich daherredeten. Sie waren verschwitzt und unausgeschlafen und versuchten sie die Verantwortung für den Vorgang gegenseitig in die Schuhe zu schieben. Besonders verblüfft war ich darüber, daß ihre beiden Kinder, zwei Jungen im Alter von drei und fünf, einfach bei den Großeltern zurückgelassen hatten. „Wie konnten Sie bloß so etwas machen?“ fragte ich. Die Frau begann immerhin zu weinen, aber der Mann zuckte mit den Achseln: „Wir dachten, die Bumsreplik kooft se schon frei.“ Für mich war die Sache klar, das waren gewissenlose, unverantwortliche Menschen. Sie hatten ihr Schicksal verdient.

Sie haben nichts anderes verdient, beschwichtigte ich mich, als das Ehepaar in getrennte Zellen abgeführt wurde. Wir saßen im Verhandlungsraum, den der Polizeipräsident uns zur Verfügung gestellt hatte. Rechtlich und moralisch hatten sie die Strafe verdient. Wenn ich jetzt entscheide, daß sie bestraft werden sollen, unterschreibe ich das Protokoll. Der ungarische Kontaktoffizier befördert sie morgen zum Flughafen Ferihegy. Dort stempelt die Grenzbehörde die Ausweisung in die Pässe. Die Zwickauer fliegen mit der normalen Interflug-Linienmaschine, aber zwischen ihnen sitzt unser Sicherheitsbeamte. Es liegt in ihrem ureigenstein Interesse, unterwegs keine Störung zu verursachen und jeden Versuch zu unterlassen, mit den anderen Reisenden Kontakt aufzunehmen. Anderthalb Stunden später landen sie in Schönefeld. Ein Gefangenenauto oder ein als zivil getarnter PKW wartet auf sie. Der Mann verbringt die Nacht in der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, die Frau schläft im Frauengefängnis Köpenick.

Diese Prozedur war seit Jahrzehnten Routine und in zwischenstaatlichen Verträgen festgelegt. Ich wußte von Amts wegen gut darüber Bescheid. Laut Statistik unserer Abteilung lieferten uns die Bruderländer jährlich rund tausend Flüchtlinge aus – 1988 waren es sogar 1083. Es gab Sommer, in denen wir ab und zu ein Sonderflugzeug nach Budapest schicken mußten. Ja, das alles wußte ich genau und fand es in Ordnung. Aber jetzt hatte ich zum ersten Mal solche Straftäter zu Gesicht bekommen.

Autor, György Dalos, 1943 in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Dalos wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 1995 mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis, im Jahr 2000 mit der goldenen Plakette der Republik Ungarn. Seine Bücher wurden in elf Sprachen übersetzt.

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