2. Juni 2023 von Iván Bába
Kaschau/Kassa/Košice liegt an der historischen Haupthandelsstraße zwischen Ungarn und Polen, in der Region Zips, an der einstigen Grenze zwischen Partium und Siebenbürgen und der ethnischen Grenze zwischen Slowaken und Ungarn. Die Bevölkerung hat in den Jahrhunderten viele Veränderungen durchlaufen, wobei die Bürger der Stadt gemeinsam jenen materiellen und geistigen Reichtum anhäuften, der den Charakter der Stadt bis zum heutigen Tage prägt.
Kassa war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Stadt von ungarischer Kultur und ungarischem Temperament – unabhängig von der Herkunft oder des Sprachgebrauchs seiner Bevölkerung. Im Jahre 1910 gaben sich von den damals 44.000 Bewohnern nur 17 % als Slowaken, weitere 7 % als Deutsche, aber gleich 76 % als Ungarn aus. Darunter befanden sich auch viele Juden, die in ihrer großen Mehrheit Ungarisch sprachen, eine ungarische Identität besaßen und als Bürger der Stadt im ungarischen Kulturkreis lebten.
Die Slowaken siedelten sich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert als Markttreibende aus den umliegenden Dörfern oder als Handwerker in den Außenbezirken der Stadt an. Es gab jedoch kein organisiertes, bewusstes Slowakentum, um in welcher Form auch immer als Faktor von Gesellschaft und Politik im Leben der Stadt präsent zu sein.
Umso schockierender war 1918 die Nachricht, die Demarkationslinie „unterhalb von Kassa“, also südlich der Stadt zu ziehen, mit der Aussicht darauf, dass „die Stadt den Tschechen zugeschlagen“ würde.
Diese historischen Tage, dieses Drama, das sich zwischen dem September 1918 und dem Juli 1919 abspielte, hielt Zoltán Vécsey in seinem Roman „Die weinende Stadt„ fest.
Im Vorwort empfiehlt József Szent-Iványi das Buch den Lesern mit den Worten: „Es war eine erschütternde Tragödie, das Leiden von Menschen in einem schrecklichen Sturm, der alle Naturgewalten gegen den Erhalt des ungarischen Lebens in geistiger wie physischer Form aufbot … Wir brachten dieses Buch in den zwanzig Jahren der Unterdrückung heraus, nachdem die Kazinczy Buch- und Zeitungsverlagsgenossenschaft den Druck beschloss. Jedoch duldete die tschechische Zensur ein Erscheinen in Ober-Ungarn nicht. Und als die Nachricht von der anstehenden Konfiszierung der Bücher zu uns drang, eilten wir im buchstäblich letzten Moment mit einigen enthusiastischen ungarischen Studenten in die Prager Druckerei, um die fertigen und halbfertigen Exemplare des Romans in großen Bündeln auf die Bahn zu geben. So konnten wir wenigstens einige Bücher für das verbliebene Rumpfland bewahren. Den Schriftsteller verwiesen die Tschechen daraufhin des Landes.” (Die zweite Auflage des Romans wurde nach 1938 verlegt, als Kaschau wieder zu Ungarn gehörte. )
Der Roman vermittelt jenes Drama, das die Stadt im Jahr eins nach dem Ende des Ersten Weltkriegs durchmachen musste. Dabei beschreibt der Schriftsteller drei Zeitabschnitte.
Der erste Abschnitt bezieht sich auf die Zeit der sog. Budapester Asternrevolution, als die Hauptstadt Chaos heimsucht, während nach Kassa erschöpfte, häufig verwundete Frontsoldaten heimkehren, die nicht nur körperlich, sondern auch im Geist verschlissen sind. Die Stadt wird mit diesen Lasten kaum fertig, mit der knappen Versorgung, der hochschnellenden Arbeitslosigkeit, den demoralisierten militärischen Einheiten, den zunehmenden Krawallen eines aufmüpfigen Mobs, während aus Budapest weder Verwaltungsvorschriften noch Befehle ergehen oder gar Hilfen zu erwarten sind. Die Stadt verspürt, dass dieses Land nicht länger funktioniert. Resignierend nimmt die Stadtführung zur Kenntnis, dass die Demarkationslinie südlich von Kassa gezogen wird, und
„dieses Kosice nun vorübergehend an die Tschechen fällt“.
Auf sehr einfühlsame Weise schildert der Roman die ersten Monate der tschechischen Besatzung, die auf diese irrationale und ungerechtfertigte Entscheidung folgenden administrativen Maßnahmen und Militärhandlungen, einen prahlenden französischen General, die Einsetzung tschechischer Amtsträger, die den Bürgern von Kaschau vollkommen fremd sind, und das Marschieren der Legionäre im Affront zu Straßengesängen. Er erzählt von den verzweifelten symbolischen Gesten der Bürger der Stadt, die Kränze an der Honvéd-Statue für ihre gefallenen Soldaten niederlegen, die ihre ungarische Kokarde an die Kleidung stecken, worauf die tschechischen Behörden Vergeltung üben, indem sie das Denkmal niederreißen, einzelne Bürger malträtieren und nicht einmal vor öffentlichen Hinrichtungen zurückschrecken.
Umso größer ist die Begeisterung angesichts der Nachricht,
„ungarische Truppen näherten sich, um die Stadt zu befreien“.
Im dritten Abschnitt vermittelt der Roman ein anschauliches Bild über das Agieren der Räterepublik. Die Kommandeure der ungarischen Roten Armee lassen die zu ihrer feierlichen Begrüßung gehissten Nationalflaggen einholen, der „Rat der Stadt“ aus zugereisten und plötzlich aus dem Nichts auftauchenden örtlichen Politikern führt unendlich lange Beratungen durch, es entsteht ein Verwaltungschaos, während die verängstigte Bevölkerung vom Terror heimgesucht wird. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Schreckensnachricht, der berüchtigte Panzerzug des Volkskommissars Tibor Szamuely sei von Miskolc aus auf dem Weg nach Kassa.
Der Vorsitzende des Revolutionären Regierungsrates, Sándor Garbai, trifft zusammen mit dem Führer der Räterepublik, Béla Kun, in Kassa ein. Sie halten eine Volksversammlung ab, bei der sich neben Garbai und Kun noch weitere Volkskommissare mit ihren Ansprachen vom Balkon des Rathauses an die Massen wenden. „Ein Redner folgte dem anderen … Kriegskommissar Szántó verkündete einen Kreuzzug gegen den Entente-Imperialismus und beschwor die kriegsentscheidenden Geschütze der Proletarier, was ausgesprochen gut bei der Menge ankam. Die Reden vom Balkon wurden auf Rumänisch, Serbisch und Kroatisch gehalten, bis schließlich ein hochgewachsener, bemerkenswerter Volksredner mit zotteligem Haar in tschechischer Sprache das Wort ergriff. Und Wunder oh Wunder, hörte man auch ihm bis zu Ende zu … Genosse Janousek hatte unglaublichen Erfolg und löste Begeisterungsstürme aus, als er
Béla Kun die Hand zum heiligen Schwur reichte und deklamierte, die tschechischen Proletarier werden Hand in Hand mit den Ungarn in den Krieg gegen jede Art der kapitalistischen und imperialistischen Unterdrückung ziehen.“
Wenige Tage später gaben die Truppen der Räterepublik die Stadt auf, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Die Stadt war nun befreit vom roten Terror, die ungarischen Rotarmisten zogen von dannen, woraufhin
eine Delegation der Stadt mit dem Bürgermeister an der Spitze die zurückkehrenden tschechischen Truppen und deren Befehlshaber, den französischen General, empfing.
„Der Bürgermeister hielt auf seinen ausgestreckten Armen ein rotes Kissen, mit den Schlüsseln der Stadt…“
Kassa wurde infolge des Ersten Wiener Schiedsspruchs vom 2. November 1938 erneut ein Teil Ungarns.
Die Stadt jubelte nun dem Einzug von Reichsverweser Miklós Horthy zu. Doch kurze Zeit darauf begann der Zweite Weltkrieg, dessen Schrecken auch Kaschau nicht verschonten. Indem das Land Stück für Stück in den Krieg mit hineingezogen wurde, musste auch Kassa dessen Schicksal teilen.
Am 19. Januar 1945 besetzten die Sowjettruppen die Stadt.
Am 5. April 1945 wurde (durch die tschechische Regierung) das Kaschauer Programm beschlossen, mit dem die systematische Entrechtung der Ungarn ihren Lauf nahm. Den Text formulierte man in Moskau, die siegreiche tschechoslowakische Führung nahm die Stadt – ohne jegliche internationale Rechtsgrundlage – erneut in Besitz.
Die politische Führung der Tschechoslowakei gründete die Ostslowakischen Stahlwerke, mit dem unverhüllten Anliegen, die ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung drastisch zu verändern. Weil es die benötigten Rohstoffe für das Stahlwerk im Umland von Košice nicht gab, wurde die Kohle aus tschechischen Bergwerken, das Eisenerz aus der Sowjetunion herangeschafft. Das riesige Werk beschäftigte zehntausende (!) Arbeiter, überwiegend Slowaken, mit deren Zuzug das Großprojekt zu einem Bevölkerungsaustausch in der Stadt führte.
Es entstanden neue Wohnsiedlungen, und binnen eines Jahrzehnts wurde aus der ursprünglich zweisprachigen Stadt eine slowakische Großstadt. Die Einwohnerzahl von Košice nahm von 60.000 Menschen im Jahre 1950 über 142.000 Menschen 1970 bis auf 240.000 Einwohner im Jahre 2011 zu.
Heute sind 97 % der Bewohner der Stadt Slowaken.
Auszug aus der Essay von Iván Bába: Košice – Die Stadt als Lebensform für Geist und Seele
MAGYARUL: Bába Iván: Kassa. A város mint szellemi és lelki életforma
Autor, Iván Bába ist einer Philologe, Übersetzer und Diplomat