25. Mai 2022 Magyar Nemzet von ZOLTÁN W.-NEMESSURI
Drei Titel fassen die revolutionäre gesamtkünstlerische Ausstellung der 1960er und 1970er Jahre zusammen. Der erste sind die sinnlichen drei Worte des Ideengebers des Projekts, des Dokumentarfilmers András Kisfaludy: Freier Platz mit Schatten (’Szabad tér árnyakkal’); dann die sprachliche Erfindung des verstorbenen Pianisten/Poeten/Publizisten Jenő Balaskó: Nachhut voraus! (’Utóvéd előre!’); und mein Titel: Landschaft in der Schlacht (’Tájkép csata közben’). Alle drei beziehen sich auf die Zeit, in der die Luft in Ungarn stickig war, der Atem aber allmählich freier wurde und sich unsere europäische und internationale Perspektive erweiterte.
Der Aufruf wurde vom wiederholt verhafteten und verbotenen Scharlatan, dem langhaarigen, schwarzummantelten Jenő Balaskó anstelle Attributen wie post, trans usw. formuliert. Er schrieb die in die Kategorien der Theorie gezwängten Bestrebungen um, während er gleichzeitig die unter der Oberfläche brodelnden und sprießenden Ströme der Kunst freilegte. Dieses Phänomen blieb eine Zeit lang unbemerkt, weil der Parteistaat es einerseits als marginal betrachtete und es andererseits kaum zu Wort kommen ließ. So konnten nur die wirklich Entschlossenen dem Sumpf von zwei Jahrzehnten entkommen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gab es keine unabhängige Ausbildung von Künstlern, und die Erneuerer wurden zum Schweigen gebracht oder lösten sich freiwillig im Schmelztiegel des sozialistisch-realistischen Heroismus auf. Es gab immer welche, die von den veralteten Mustern abwichen – aber eine einzelne Schwalbe, nicht einmal ein ganzer Schwarm, konnte einen Sommer machen. Oder etwa doch?
Diese zwanzig Jahre sind in der bildenden Kunst, der Literatur, dem Kino, der Musik und der Theaterkultur eine Richtungssuche gewesen. Man hat auch Wege gefunden, die in viele Richtungen abzweigten. Nach mehr als einem halben Jahrhundert ist es für die Organisatoren nun an der Zeit, eine Bilanz der Arbeit dieser zwei Jahrzehnte zu ziehen und das Beste davon wenigstens zusammengefasst zu präsentieren.
László Alapfy, Typograf, Fotograf und Organisator der Ausstellung, die Kunsthistorikerin Judit Kallós, der Regisseur András Kisfaludy, Ferenc Veszely und Zoltán W.-Nemessuri, sowie nicht zuletzt die Grafikdesigner József Árandás, István Bakos und Péter Pócs, „Lichtmacher“ Attila Csáji, Grafiker, Maler und Bildhauer Péter Prutkay, der verstorbene Fotograf László Török, Karikaturist und Essayist György Kovásznai, Performance-Künstler Tamás Szentjóby, Maler János Vető und viele andere Aussteller verfolgten mit der Ausstellung nicht nur das Ziel, einer blühende Zeit ein Denkmal zu setzen. Mit Hilfe der Metropolitan University, des Kossuth-Clubs und, wie wir hoffen, anderer Kultur- und Bildungseinrichtungen versuchen wir auch, die Botschaft der Epoche an junge Menschen heranzutragen, an diejenigen, die heute bereit sind, kreative Prozesse, Symbole und Methoden zu erneuern. Es liegt nun an ihnen, aus der Vergangenheit zu schöpfen oder sie zu verwerfen und ihre eigene zeitgenössische Realität und ihr eigenes Denken zu offenbaren.
Der ungarische Aufschwung der 1960er und 1970er Jahre ist inzwischen verblasst, aber seine künstlerischen Werte sind unbestritten. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Demontage des Parteistaates, verkürzten seine lange Agonie ein wenig und führten zu grundlegenden Veränderungen in Form und Inhalt.
Dieser kurze Zeitraum wird – politisch unkorrekt – als Tauwetter bezeichnet, obwohl vor allem der Konsum magerer, minderwertiger Produkte zunahm. Er hat die Fesseln der Kultur nicht gesprengt, sondern eher daran gezerrt, vor allem in der bildenden Kunst, im Film und in der Popmusik sowie in der Welt, die mit ihnen und um sie herum entstanden ist.
Nur, dass die so genannten 68er-Künstler in Amerika und Westeuropa eine Kritik an der bürgerlichen Oberflächlichkeit und am Überkonsum üben wollten, während sie in Ungarn spielerisch ironisch und befreiend wirken.
Das war eine Form des Protestes gegen Unterdrückung und kleinbürgerliche Tristesse in der Unfreiheit unserer damaligen Welt – und keineswegs ungefährlich.
Diese beiden Jahrzehnte waren auch eine bemerkenswerte Zeit für das europäische Kino, mit der französischen und tschechischen Neuen Welle und einigen polnischen Regisseuren. In Ungarn bevorzugte das Balázs-Béla-Studio Dokumentarfilme mit starker sozialer Aufladung und Fotografie – soweit sie nicht verboten waren -, weil die Entscheidungstreffer darin eine neue Version des sozialistischen Realismus sahen. Auch die grafische Gestaltung – insbesondere von Wandbehängen und Werbebroschüren für Kultur- und Konsumgüter – wurde in dieser Zeit favorisiert, um die Mangelwirtschaft zu kaschieren. In jedem Fall war es eine herausragende Periode ungarischer (und polnischer) Plakatgestaltung, die bis heute Vorbildcharakter hat. Jedes Genre hatte seine eigene Botschaft und versteckte Botschaft, weshalb es sich lohnt, auf sie zurückzukommen und sich mit ihren Werken vertraut zu machen.
Der Generationenkampf hatte auch in der Fiktion seine Momente, sowohl in Ungarn als auch in Westeuropa und Amerika. Aber die ungarische Literatur kopierte weder die Beat-Autoren aus Übersee noch den französischen Existenzialismus, die nüchterne, objektivistische Auffassung des Nouveau Roman und den südamerikanischen magischen Realismus. Sie übernahm nicht die Philosophie der (west)deutschen und italienischen Neuen Linken, sondern versuchte, die ungarische Realität darzustellen. Vor allem in der Lyrik, mit Ákos Fodor, Sándor Juhász, György Petri, Otto Tolnai und Katalin Ladik, aber auch in der Prosa, mit den Werken von Árpád Ajtony, Péter Hajnóczy, Péter Dobai, András Simonffy und Géza Bereményi. Aber das ikonische Új szimpozion, die bekannteste Zeitschrift zeitgenössischer ungarischer Initiativen, die in Novi Sad in Jugoslawien herausgegeben wurde, konnte das Land als „Schmuggelware” kaum erreichen. Auch die andere Publikation von emigrierten Schriftstellern und Dichtern, die in Paris herausgegebene Magyar Műhely, wurde nur von wenigen gelesen. Der Experimentalfilm hat auch Versuche gemacht, aber die Filme waren altersbeschränkt und wurden manchmal verboten, weil ihre Botschaft die Massen erreichen konnte. Sie wurden unter anderem von Gábor Bódy, Dezső Magyar, Károly Bárdos und István/Szőke Sipos geprägt, von denen letztere drei das Land verlassen mussten.
In Ungarn wurden Popmusik, progressiver Jazz und Konzertveranstaltungen von Gruppen gefördert, die sich Galeri nannten. Gegen sie schufen die Behörden das Genre des Pol-Beat, das mit Bob Dylan und Donovan aus dem Westen importiert wurde, um sie mit propagandistisch angehauchten Texten zu diskreditieren. In der Zwischenzeit hatte die Hippie-Bewegung mit ihrer sexuellen Promiskuität und allem, was dazugehört – von langen Haaren bis zu Schlaghosen – auch unser Land erobert. Ihre Musik ersetzte den Rock ’n‘ Roll mit englischem Beat und seinen ungarischen Versionen, vor allem der Band Kex mit János Baksa Soós, Syrius mit Jackie Orszáczky, Ádám Török mit Mini und einigen anderen Bands.
Der Parteistaat ging am schärfsten gegen sie vor, weil sie zu Gruppenbildnern wurden und ihren Protest sehr erfolgreich zum Ausdruck brachten. Sie nahmen die neuesten künstlerischen Bestrebungen auf und bildeten sie gleichzeitig ab. Modernismus und sozialistisch-realistischer Heroismus konnten dies nicht ignorieren. Ein paar Dutzend Künstler – Maler, Bildhauer, Grafiker, Fotografen, Filmemacher, Schriftsteller, Lyriker, Musiker und nicht zuletzt der Regisseur und Schauspieler des interaktiven Wohnungstheaters, Péter Halász -, leisteten Widerstand und taten, was sie für richtig hielten – trotz Verbot oder Ausgrenzung.
Heute ist es erstaunlich, dass Künstler und Gruppen von Künstlern ihre Freiheit riskieren mussten, um ihren Botschaften Ausdruck zu verleihen. Nicht nur mit dem Unverständnis, sondern auch mit dem Partei- und Kulturapparat hatten sie zu kämpfen, über mentale und physische Grenzen hinweg.
Es kommt einem kleinen Wunder gleich, dass in dieser Zeit dennoch neuartige, wertvolle Werke entstanden sind, selbst wenn das seit Anbeginn die Aufgabe der Kunst ist.
Aus diesem Grund ist „Freier Platz mit Schatten“ eine solche Kuriosität. Die Ausstellung ist eine Ermutigung für alle, die ihre künstlerische und menschliche Unabhängigkeit nie aufgeben. Außerdem ist sie eine Erinnerung an die prägenden Künstler der Epoche; und die Publikation in Farbe ist ein Versuch, das Panorama der damaligen Kunst zu zeigen. Die Ausstellung wird bald im Kossuth Klub zu sehen.
Autor, Zoltán W.-Nemessuri ist Schriftsteller, Kurator der Ausstellung
MAGYARUL: https://magyarnemzet.hu/kultura/2022/05/szabad-ter-arnyakkal
https://petofilive.hu/video/2022/05/14/a-szabad-ter-arnyakkal-cimu-vandorkiallitason-jartunk/#