Das Blut der Ungarn

23. Oktober 2025 von Albert Camus (1913-1960)

„Das Blut Ungarns ist für Europa und für die Freiheit zu kostbar geworden, als dass wir nicht bis zum letzten Tropfen darauf eifersüchtig sein könnten.“

Ich gehöre nicht zu denen, die da wünschen, das ungarische Volk möchte von neuem und in einem zum Scheitern verurteilten Aufstand zu den Waffen greifen – unter den Augen einer internationalen Gesellschaft, die mit ihrem Beifall, ihren tugendhaft vergossenen Tränen nicht geizen, aber auch alsbald wieder Schlafrock und Pantoffeln anziehen würde: wie der sonntägliche Zuschauer nach dem Fussballspiel.

Nein, schon zu viele Tote liegen in der Arena. Verschwenden aber sollten wir nur unser eigenes Blut. Denn wir wissen, was das ungarische Blut für Europa und für die Freiheit wert ist und wollen jeden Tropfen hüten und schonen.

Und doch zähle ich nicht zu denen, die da meinen, sich anpassen, sich mit der Schreckensherrschaft, wäre es auch nur vorübergehend und indirekt abfinden zu müssen. Diese Herrschaft hat so wenig Recht, sich sozialistisch zu nennen, wid die Henkersknechte der Inquisition sich christlich nennen durften.

Am heutigen Jahrestag der Freiheit wünsche ich mit ganzer Seele, dass der stumme Widerstand des ungarischen Volkes fortdauern und an Kraft gewinnen möge, um, vereint mit dem Widerhall all der Stimmen, mit denen wir ihn unterstützen können, von der internationalen öffentlichen Meinung den Boykott der Unterdrücker zu erwirken.

Und wenn diese öffentliche Meinung in ihrem Egoismus zu feige ist und wenn unsere Stimmen zu schwach sind, um einem Märtyrervolk zu seinem Recht zu verhelfen, so wünsche ich dem ungarischen Widerstand die Kraft, auszuharren bis zu der Stunde, da die gegenrevolutionäre Herrschaft im ganzen Osten unter der Last ihrer Lüge und ihres inneren Widerspruchs zusammenbricht.

Besiegt und in Fesseln geschlagen, hat Ungarn mehr für Freiheit und Recht geleistet als irgend eine andere Nation während der letzten zwanzig Jahre. Um aber den Westen, der sich so lange Augen und Ohren verstopft hatte, die geschichtliche Lektion zu lehren, musste das ungarische Volk Ströme seines Bluts vergiessen.

In der Vereinsamung, in die Europa heute geraten ist, gibt es nur eines, den Ungarn die Treue zu halten: nie und nirgends in der Welt die Werte zu verraten, für die die ungarischen Kämpfer gefallen sind, und auch nie und nirgends, wäre es auch nur indirekt, das gelten zu lassen, was sie gemordet hat.

Sich solcher Opfer würdig zu erweisen, fällt nicht leicht. Aber wir müssen es versuchen, müssen in einem endlich vereinigten Europa unsere Anstrengungen vervielfältigen, müssen unsere Streitereien vergessen und unsere Irrtümer beseitigen. Wir glauben, dass sich gegen die Mächte des Zwanges und des Todes, die die Geschichte verdunkeln, in der Welt eine Kraft entfaltet, Kraft des Lebens und der Überzeugungen, eine machtvolle Bewegung der Befreiung, die sich Kultur nennt und die Frucht freien Schaffens und Handelns ist.

Die ungarischen Arbeiter und geistig Schaffenden, denen wir heute in der Ohnmacht unserer Trauer nahe sind, wissen dies; denn sie selber sind es, die uns den tieferen Sinn dieses Glaubens verstehen lehrten. Wenn ihr Unglück, ihre Armut die unseren sind, so ist es auch ihre Hoffnung. In all ihrer Not, Knechtung und Verbannung haben sie uns ein königliches Erbe anvertraut; aber wir müssen es erst verdienen: die Freiheit nämlich, die sie nicht nur gewählt, sondern auch an einem einzigen Tage für uns alle zurückgewonnen haben. (1957)

Autor, ALBERT CAMUS (1913-1960) war ein französischer Schriftsteller und Philosoph. 1957 erhielt er für sein publizistisches Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Camus gilt als einer der bekanntesten und bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Quelle: Hungarian Anerican Museum: https://magyarmuseum.org/1956/the-blood-of-the-hungarians/ (MAGYARUL és még sok nyelven is)

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