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Die Deportationen in Ungarn während der kommunistischen Diktatur

13. September 2023 Ungarn Jahrbuch von IRÉN RAB

Zwischen dem 21. Mai und 18. Juli 1951 wurden aus Budapest 5.182 Familien, insgesamt 13.670 Menschen zwangsausgesiedelt. Die Behörden gaben ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, um das Nötigste zu packen, ihr bisheriges Leben aufzulösen.

Der Befehl erreichte sie in der Morgendämmerung, und am nächsten Morgen wurden sie mit einem Lastwagen zum Güterbahnhof transportiert. Dort warteten sie in den Waggons bis zum Abend auf die Abfahrt. Man munkelte, dass sie nach Sibirien, in den Gulag gebracht werden würden. Einige von ihnen waren bereits in sowjetischen Arbeitslagern gewesen, als Kriegsgefangene oder als für malenkij robot verschleppte Zivilisten. Sie hatten Erfahrungen, aber sie konnten sich nicht vorstellen, was sie jetzt erwartete.

Sie wurden in ihrem eigenen Land als Klassenfeinde bezeichnet. Sie wurden Volksfeinde, Feinde des arbeitenden ungarischen Volkes. Sie konnten nicht verstehen, warum sie als solche gebrandmarkt wurden, da sie nach bestem Wissen und Gewissen ihrem Land gedient hatten.

Unter ihnen waren ehemalige Minister, Staatssekretäre, Richter und Staatsanwälte, Beamten, Offiziere, Grundbesitzer und Nachkommen hochadliger Familien. Wie auch die Verfasserin dieses Buches, die damals zehnjährige Kinga Széchenyi, die zusammen mit ihrer Großmutter, Mutter, Tante und Zwillingsschwester von den Kommunisten als Klassenfeind eingestuft wurde.

Die kommunistischen Genossen behielten die großbürgerlichen Wohnungen, die beschlagnahmten Güter für sich. Die Vertriebenen sahen ihre Häuser, Besitztümer und Wertgegenstände nie wieder.

Das Regime sah überall Feinde und wollte die ungarische Volksdemokratie von den Klassenfeinden befreien. Jeder, der anders über die Welt dachte, galt als Feind. Jeder, der gebildet, wohlhabend und erfolgreich war, galt als Feind. Diese wurden deklassiert, ihres Reichtums, aller historischen Titel, Ränge und Ämter und auch der verdienten Rente enthoben. Diejenigen, die widerstanden, wurden inhaftiert, gefoltert und interniert. Diejenigen, die als politisch unzuverlässig galten, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. 93.000 Beamten mit juristischer und wirtschaftlicher Ausbildung wurden durch unqualifiziertes Personal ersetzt.

Auf dem Lande wurden die wohlhabenden Landwirte liquidiert. Ihre Anbauflächen wurden enteignet, ihre Kredite gestrichen, sie wurden aus den traditionellen Bauernverbänden entfernt, mit Kulakensteuern, der Verpflichtung zur übermäßigen Abgabe belegt. Etwa Hunderttausend Bauernhöfe wurden von den Kommunisten vernichtet.

Diese Ära war von Hausdurchsuchungen, Lauschangriffen, Verhaftungen, Schauprozesse geprägt. Viele Menschen landeten in Gefängnissen oder in Internierungs- und Zwangsarbeitslagern.

Die Mittel und Ziele der Zwangsumsiedlung ähnelten jenen der Judendeportation. Eigentum wurde beschlagnahmt, Menschen wurden ihrer Rechte beraubt, eingeschüchtert und ohne Gerichtsurteil mit Gewalt deportiert.

Die Familien lebten in Wohnungen, die aus Schweine- und Schafställen umgebaut wurden, mussten täglich Demütigung, psychischen und physischen Terror ertragen. Sie waren hilflos und ohnmächtig, aber behielten trotzdem ihre menschliche Würde.

Das Ziel der Diktatur war die Ausrottung und physische Vernichtung einer Gesellschaftsschicht, die als faschistisch gebrandmarkt wurde.

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 kam die Amnestie. Die Deportierten wurden entlassen, aber sie durften in ihre Wohnungen trotzdem nicht zurückkehren. Ansprüche auf Rückgabe und Entschädigung wurden im Sinne des Amnestiedekrets ausgeschlossen. Sie durften weder in Budapest noch in den größeren Städten oder im Grenzgebiet Fuß fassen. Sie standen unter polizeilicher Aufsicht, wurden weiterhin diskriminiert, auch bei der Stellenvergabe. Das X stand neben dem Namen ihrer Kinder, sie durften nicht studieren.

Zum Zeitpunkt des Amnestieerlasses hat die Staatspartei die Klassenfeinde erneut aufgelistet. 1953 wurden 94.827 Personen auf dieser Liste geführt.

Der Geheimdienst hat viel mehr Feinde registriert, etwa zwei Millionen Menschen, jeder fünfte Ungar zählte als Klassenfeind.

Auf sie wurden vierzigtausend Agenten angesetzt. Diese Liste der Regimegegner wurde von den Geheimdiensten bis zum Regimewechsel im Jahr 1989 verwendet. Die ehemals Deportierten durften über die Geschehnisse nie, nirgendwo, niemandem etwas erzählen. Wer dagegen verstieß, wurde wegen Verletzung von Staatsgeheimnissen hart bestraft. Die Betroffenen hielten also still, und nach vierzig Jahren gab es nur noch wenige, die darüber noch sprechen konnten. Die Dokumente sind seit 1995 für Forscher zugänglich, aber die wirklich belastenden Schriftstücke hat die kommunistische Parteielite noch rechtzeitig vernichtet, sie sind aus den Archiven verschwunden. Die Mehrheit der Gesellschaft erinnert sich nicht mehr an die kommunistische Schreckensherrschaft.

Die Nachkommen der Verantwortlichen leben heute ebenso sorglos unter uns wie die Nachkommen jener, die dem System gedient hatten.

Im Westen ist kaum etwas über das brutale Unterdrückungssystem der 1950er Jahre bekannt. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hatten Ungarn dem Hegemonialbereich der Sowjetunion zugeordnet. Die Diktatur wurde nach stalinistischer Art von den Kommunisten etabliert, die nach 1945 aus sowjetischem Exil nach Ungarn zurückkehrt waren.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dieser Zeit, mit der Stigmatisierung und Verfolgung der Menschen, die als Feinde der Diktatur des Proletariats galten. »Unser Kampf gegen die Willkür wird effektiver sein«, schreibt die Verfasserin zu ihrer Motivation, »wenn wir uns die Geschehnisse jener Zeit vergegenwärtigten. Vielleicht gibt dieser Gedanke den Opfern jener Zeit Trost, auch wenn sie damit keine Wiedergutmachung erfahren.«

Das Werk besteht aus zwei Teilen. Der erste stützt sich auf heute öffentlich einsehbare archivalische Schriftstücke zu der Vorgeschichte der Deportationen, den rechtlichen Grundlagen der Zwangsmaßnahmen, der Registrierung der zu Deportierenden sowie zu den Deportationen selbst und den Einschränkungen im Leben der Deportierten. Im zweiten Teil lässt die Verfasserin die Deportierten selbst zu Wort kommen. Diese persönlichen Dokumente – 35 Lebenserinnerungen, Briefe, Tagebuchauszüge – machen den Versuch, Klassenfeinde zu vernichten, lebendig.

Dank gebührt Kinga Széchenyi, die in ihrem Buch die Tragödie der Vertreibung aufgearbeitet hat. Die deutsche Ausgabe von Anfang 2022 macht die unbekannte Geschichte dieser Zeit auch den Leserinnen und Lesern außerhalb Ungarns zugänglich.

Kinga Széchenyi: Klassenfeinde. Die Geschichte der Deportationen in Ungarn während der kommunistischen Schreckensherrschaft. Gekürzte und überarbeitete Ausgabe. Deutsch von Kálmán und Dénes Széchényi. Marktoberdorf: Seubert Verlag 2021. S. 556.

Die Rezension hat Dr. phil Irén Rab, Kulturhistorikerin und Gründungsredakteurin von UNGARNREAL geschrieben.

Diese Rezension erschien zuerst im Ungarn-Jahrbuch, Zeitschrift für interdisziplinäre Hungarologie, 38 (2022) Regensburg, Friedrich Pustet Verlag, S. 350-352.

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