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Darf man das? Man muss sogar!

14. Oktober 2022 Berliner Zeitung von TOMASZ KURINOWICZ

Die Berliner Zeitung lud Ungarns Staatschef zum Gespräch ein. Dafür gibt es Kritik, doch die Auseinandersetzung muss sein: auf ihr basiert Journalismus. 

Der Journalist Hanns Joachim Friedrichs hat einmal zwei wichtige Sätze gesagt, die viele Journalisten geprägt haben und auch für mich immer noch wegweisend sind. Er sagte, was Journalismus in seinem Sinne leisten müsse: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, dass die Zuschauer dir vertrauen (…) und dir zuhören.“ 

Diese Sätze sind mit eine Erklärung, warum sich die Redaktion der Berliner Zeitung unter meiner Leitung dazu entschlossen hat, Viktor Orbán zum Gespräch zu laden, den Ministerpräsidenten Ungarns. Eines EU-Landes, das eine wichtige Stimme Osteuropas repräsentiert, eines Landes, das an die Ukraine grenzt und ohne dessen Stimme sowohl die EU-Sanktionspolitik gegen Russland als auch weitere Maßnahmen im Kampf gegen den russischen Ukraine-Krieg nicht möglich wären – Stichwort Einstimmigkeit in der Außenpolitik. 

Große Unkenntnis über Osteuropa 

Der Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, führte das Gespräch gemeinsam mit Alexander Marguier vom Cicero. Heute, am Tag nach der Veranstaltung, bin ich noch einmal mehr davon überzeugt, dass diese Entscheidung richtig war.

Viktor Orbáns Positionen zu hören, 80 Minuten lang in die Gedankenwelt, in die Argumentationslogik des radikal-christlich geprägten Politikers einzusteigen, die Motive hinter Orbáns Handeln in einer konfrontativen und kritischen Gesprächssituation zu ergründen versuchen,

war für mich erkenntnisreich, überraschend und, ja, auch „fruchtbar“ – um die Worte von Bundeskanzler Olaf Scholz nach dessen Gespräch mit Orbán zu benutzen. Ich bekam als Zuhörer eine weitere Möglichkeit, mein Nachdenken über die geopolitischen Herausforderungen der Zukunft zu schärfen. 

Wir leben in einem Klima, in dem Journalismus von vielen als Mittel dafür verstanden wird, sich dem Zweck einer Agenda zu verschreiben, ja, im Sinne des Guten selbst Politik zu betreiben. Und nicht dafür, vor allem der Informationsvermittlung zu dienen, dafür zu sorgen, dass sich Empfängerinnen und Empfänger mit möglichst vielen Positionen vertraut und sich ein vollständiges Bild davon machen können, wie die Wirklichkeit ist – auch wenn letztere den Journalisten nicht gefällt. 

Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass gerade

mit Blick auf Osteuropa die Meinungsbildung in Deutschland oft weniger auf Erkenntnissen, sondern mehr auf Gefühlen und Vermutungen basiert.

Zudem fußt Journalismus über Osteuropa oft auf einem groben Unverständnis der besonderen Geschichte des Ostens, die in Deutschland stärker aufgearbeitet werden müsste. Anstatt sich mit dieser speziellen Geschichte zu konfrontieren, ist in vielen journalistischen Redaktionen eine Art pädagogischer Imperialismus eingedrungen, der oftmals blind bleibt für Nuancen. 

Die Positionen des ungarischen Ministerpräsidenten sind kontrovers 

Ich habe dank unseres Orbán-Gesprächs erfahren, wie groß die Bedrohung der ungarischen Minderheit durch russische Bomben in der Ukraine ist. Orbán mutmaßt, der Angriff Russlands auf die Ukraine hätte schon 2014, während der Krim-Krise, stattfinden können, wäre da nicht Angela Merkels Verhandlungsgeschick gewesen, das aus Sicht Orbáns damals Schlimmeres verhinderte. Auch Orbáns umstrittener „Ungarn First“-Ansatz wurde bei der Diskussion mehr als deutlich. 

Ohne Frage: Die Positionen des ungarischen Ministerpräsidenten sind kontrovers, seine Politik ist minderheitenfeindlich. Aber

seine Positionen spiegeln vielfach die Haltung eines großen Teils der Bürger der Europäischen Union wider. Auch seine Forderung nach einer Feuerpause in der Ukraine hat Rückhalt in Europa – „egal, was die Ukrainer darüber denken“,

wie Orbán es formulierte. Mit diesen Positionen muss man sich auseinandersetzen, wenn man ernsthaft über das, was gerade politisch in Europa passiert, informiert sein und seine eigenen Schlüsse ziehen will. 

……

Der vollständige Artikel kann man hier lesen: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/berliner-zeitung-spricht-mit-viktor-orban-darf-man-das-man-muss-sogar-li.275868

Autor, Tomasz Kurianowicz ist Chefredakteur der Berliner Zeitung.

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