30. April 2022 Tichys Einblick von BORIS KÁLNOKY
Erstmals setzt die Europäische Union den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein – gegen Ungarn. Polen bleibt vorerst ungeschoren, wohl weil es sich im Ukraine-Konflikt EU-konform verhält.
Wenn die EU-Maschinerie Nachrichten gebärt, so geschieht dies meist nach langen Wehen und ohne jede Überraschung. Der Ultraschall hat ja längst gezeigt, was da im Werden ist. Trotzdem ist dann die Aufregung groß:
Es ist ein Rechtsstaatlichkeitsmechanismus!
Dieses neue Instrument der Brüsseler Bürokratie wurde am Mittwoch erstmals von der EU-Kommission aktiviert, gegen Ungarn. Genauer gesagt, die Kommission ermächtigte den zuständigen Kommissar, Johannes Hahn, den Mechanismus zu aktivieren.
Der grüne Europa-Abgeordnete und eifrige Orbán-Bekämpfer Daniel Freund geriet ganz außer Rand und Band auf Twitter: „Endlich! (…) Bald wird es keine EU-Gelder mehr für Orbans Autokraten-Kurs mehr geben.“
Freilich wird heißer gekocht als gegessen. Das gilt auch hier.
Der neue Mechanismus wird irgendwann, in Jahren, vielleicht zu begrenzten Sanktionen führen – wie es sowieso auch schon bisher, ganz ohne den „Mechanismus“ immer der Fall war.
Die Antikorruptionsbehörde OLAF untersucht regelmäßig, ob EU-Gelder sachgerecht verwendet wurden, und empfiehlt gegebenenfalls die Rückzahlung bereits gewährter EU-Zuschüsse. Das passiert jedes Jahr. Der neue Mechanismus führt nur eine weitere Ebene der finanziellen Kontrolle ein. Doppelt gemoppelt, könnte man sagen, oder etwas positiver: Doppelt hält besser.
„EU-Gelder für Orbáns Autokraten-Kurs“ hat es nie gegeben, die EU unterstützt keine Autokraten und gerade erst fanden freie Wahlen in Ungarn statt, die Orbán gewann. Selbst die geschlagene Opposition erkannte öffentlich an, dass das nichts mit „Autokratie“ zu tun hatte, sondern dass sie selbst versagt hatte.
Genauso wenig hat der neue Mechanismus zum Ziel, demokratische Strukturen zu stärken oder einer imaginären „Autokratie“ den Geldhahn abzudrehen. Das sagt schon die Amtsbezeichnung des zuständigen Kommissars: Johannes Hahn kümmert sich um „Haushalt und Verwaltung“, nicht etwa um „Werte und Transparenz“ (das macht Vera Jourova).
Der „Mechanismus“ ermöglicht Mittelkürzungen, wenn hinreichend und präzise und quantifizierbar nachgewiesen werden kann, dass Unzulänglichkeiten im Justizsystem eines Landes zur regelwidrigen Verwendung von EU-Geldern führen. Das ist mühsam.
Es geht theoretisch also nicht darum, dem Land sämtliche EU-Gelder zu streichen, sondern nur solche und oft nur zum Teil, bei deren Verwendung nachgewiesen werden kann, dass Schwachstellen im Justizsystem Korruption ermöglichte, erleichterte oder gar förderte.
Auf ungarischer Seite zeichnet sich ab, dass man dem Vorwurf unzulänglicher Korruptionsbekämpfung durch die Einrichtung einer neuen Behörde zur Bekämpfung von Korruption begegnen will. Ob das reicht, bleibt abzuwarten. Der EU wäre es natürlich am liebsten, wenn Ungarn der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft beitritt. Das ist freilich ausgeschlossen, da man in Budapest der EU genauso wenig traut wie die EU Budapest. Die Sorge in Ungarn ist, dass die EU-Staatsanwaltschaft irgendwann auch als Instrument politischer Druckausübung missbraucht werden könnte.
Anders als OLAF, eine unpolitische Ermittlungsbehörde,
führt der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eine politische und daher auch politisierbare Dimension ein. Mittel können gesperrt werden,
wenn sich, nach einer langwierigen Prozedur, im Rat der Staats- und Regierungschefs eine qualifizierte Mehrheit dafür findet – 55 Prozent der Mitgliedsländer mit 65 Prozent der Bevölkerung der EU. In Kräfteverhältnisse übersetzt bedeutet das wahrscheinlich, dass Ungarn bestraft wird, falls Deutschland und Frankreich sich darauf einigen und in der übrigen EU darauf hinwirken.
Werden sie das? Bundeskanzler Olaf Scholz ist Pragmatiker und hat dazu bislang nichts gesagt.
Die deutsche Industrie hat erhebliche Interessen in Ungarn. Viele deutsche Unternehmen genießen dort große Steuervorteile und direkte Subventionen des ungarischen Staates
gekoppelt mit der Bedingung, möglichst keine Arbeitskräfte zu entlassen). Denkbar, dass in bilateralen Gesprächen die ungarische Seite bedauernd anmerken wird, dass diese Leistungen für deutsche Unternehmen nicht zuletzt dank der EU-Gelder finanzierbar sind, und nicht aufrechterhalten werden können, wenn diese fehlen. Österreichische Unternehmen haben ihrer Botschaft/Regierung bereits solche Befürchtungen mitgeteilt.
Olaf Scholz’ Regierungskoalition ist aber deutlich ideologischer gepolt als der Kanzler und dürfte Sanktionen unterstützen. Zudem ist Deutschland das Land in der EU, in dem die Regierung sich am ehesten dem Druck der Medien beugt, wenn diese ein Thema intensiv aufgreifen – was zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Ungarn durchaus zu erwarten ist.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versteht sich gut mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und ist ebenfalls kein Ideologe. Er hat in dieser Frage bislang eher vorsichtig formuliert, was eine enge Auslegung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus durch Frankreich nahelegt (also höchstens begrenzte Sanktionen). Andererseits spielt er sich als Vorkämpfer für eine integriertere EU auf. Es wäre keine Überraschung, wenn er Sanktionen zustimmt.
Bei einer Abstimmung im Rat der Staats- und Regierungschefs konnte sich Ungarn bisher auf die Unterstützung der sogenannten Visegrád-Gruppe und derer mitteleuropäischen Verbündeten verlassen. Also Polen, Tschechien und die Slowakei, sowie Slowenien.
Neue, liberalere Regierungen in Tschechien, Slowenien und der Slowakei und eine tiefe Spaltung der V4 in der Frage der Haltung gegenüber Russland lassen dies momentan jedoch als eher unwahrscheinlich erscheinen.
Ungarn steht in dieser Frage gegenwärtig mehr oder minder allein.
Bemerkenswerterweise hat die EU-Kommission den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus bislang nicht gegen Polen aktiviert. Immerhin wird dem Land vorgeworfen, die Unabhängigkeit der Justiz völlig ausgehebelt zu haben; zudem hat das polnische Verfassungsgericht die Gültigkeit mancher Teile des Lissabonner Vertrags in Bezug auf Polen in Zweifel gezogen.
Denkbar, dass die EU Polen für seine scharfe Haltung gegenüber Russland im Konflikt mit der Ukraine belohnen will und Rechtsstaatlichkeitsvorwürfe gegenüber Warschau vorerst nicht weiter betont.
Das hätte den politischen Vorteil, die Spannungen zwischen Polen und Ungarn zu vertiefen.
Ungarn versucht hingegen, seinen bisherigen Verbündeten klarzumachen, dass sie die nächsten „Opfer“ werden könnten, dass es daher wichtig ist, gegenüber der EU in dieser Frage eine gemeinsame Haltung zu bewahren.
Dieser Artikel erschienam 28. April 2022 in Tichys Einblick: https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/aus-aller-welt/wie-die-eu-orban-bezwingen-und-die-visegrad-gruppe-spalten-will/
2 Kommentare
Das Bild über dem Artikel könnte nicht besser gewählt sein: die Apophänie der säkularen Heiligen Ursula als der Prophetin der perversen „Europäischen Werte“. Im angesprochenen Fall geht es tatsächlich um ein zentrales Element im Rahmen dessen, was Eric Voegelin als moderne Gnosis umrissen hat: die Immanentisierung der bekämpften christlichen Eschatologie, nämlich um die Erschaffung eines weltlichen Surrogats des einst transzendent geschauten Himmlischen Jerusalems. Und wer sich erdreistet, der Realisierung dieses Paradieses auf Erden im Wege zu stehen, muß, wie einst in der Gnosis des Marxismus-Leninismus-Stalinismus, gebrochen oder liquidiert werden. „Fiat iustitia – pereat mundus!“ heißt auch jetzt die Parole in den transatlantischen und europäischen Hauptstädten – mit der rühmlichen Ausnahme Budapest. Gott gebe Ungarn und seiner Regierung Standhaftigkeit!
Es ist ein sehr aufschlussreicher Artikel. Er erschien zunächst im liberal-konservativen Meinungsmagazin „Tichys Einblick“. Bemerken möchte ich, dass hier unter „liberal“ die ursprüngliche Bedeutung zu verstehen ist, also nicht die derzeitige Bezeichnung einer meinungsbeeinflussenden, intoleranten, aggressiven Einstellung.
Ohne jedem Schlagwort Allgemeingültigkeit zu schenken, liegt viel Wahres daran, dass wir in einem Zeitalter der Massenmanipulation leben. Es gibt jedoch Autoren, die der Hauptströmung entgegentreten. Sie haben das Ethos und die Werte der wahren Berichtserstattung aufbewahrt: Ihre Ausführungen beruhen auf Faktenwissen und Sachlichkeit. Zu diesen Autoren gehört unter anderen auch Herr Boris Kálnoky.
Das Thema ist komplex genug. Herr Kálnoky kennt sich aber darin gut aus und behandelt den Stoff gekonnt mit mancher Ironie und eleganter Leidenschaftslosigkeit. Wie er oben ausführt, hat dieser neue Mechanismus der EU-Bürokratie nicht zum Ziel, die „demokratischen Strukturen“ zu stärken. Der Mechanismus ermöglicht Mittelkürzungen, wenn nachgewiesen werden kann, „…dass Unzulänglichkeiten im Justizsystem eines Landes zu regelwidrigen Verwendung von EU-Geldern führen.“ Relativ beruhigend ist, dass begrenzte Sanktionen eventuell erst nach Jahren unser Land treffen könnten. Eine Entscheidung dafür soll im Rat der Staats- und Regierungschefs mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden. Praktisch bedeutet dies, dass die Stimmen von Deutschland und Frankreich und die von ihnen beeinflussten Staaten für einen solchen Beschluss ausreichen würden.
Ungarn konnte bislang auf die Unterstützung der Visegrád-Staaten rechnen. Die Hoffnung der westlichen Mitgliedsstaaten besteht darin, dass die V4-Staaten durch die divergierende Haltung gegenüber Russland gespalten werden. Hoffentlich wird es nicht dazu kommen.
Die Lektüre des Artikels verstärkt die trübe Erkenntnis, dass das Lenkrad zum Ziel eines Europas zur Wohlfahrt aller Mitgliedsstaaten in falschen Händen ist. Wie bereits Friedrich von Hayek festgestellt hat: Die verhängnisvolle Überheblichkeit der Sozialisten und zur Ergänzung dazu auch noch die traurig stimmende Unwissenheit der grünen Weltverbesserer verheißen keine allzu hoffnungsvollen Perspektiven.