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Die Marxisten zehren den Liberalismus auf – Der scharfe Blick des Viktor Orbáns

17. März 2022 Achgut Von Krisztina Koenen.

Ungarn wählt Anfang April und eine „Regenbogenkoalition“ will Viktor Orbán stürzen, in der nach eigenen Angaben „Liberale, Kommunisten, Konservative und Faschisten vertreten sind“. Was sagt der Amtsinhaber dazu? Gerade für Deutschland lohnt es sich, ihm zuzuhören.

Am 3. April finden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Diesmal steht dem konservativen Parteienbündnis von Fidesz, der Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán, und der christdemokratischen KDNP ein links-grün-faschistisches Parteienbündnis gegenüber. Orbán regiert seit 2010 das Land, er hat drei Wahlen mit einer Zweidrittelmehrheit gegen eine zersplitterte, zerstrittene Opposition gewonnen. Jetzt haben sich sechs Oppositionsparteien zu einem Block zusammengeschlossen, weil sie nur so eine Chance sehen, das Fidesz-Bündnis schlagen zu können.

Bei der Bezeichnung „faschistisch“ handelt es sich keineswegs um die Meinung des Autors dieser Zeilen. Der Spitzenkandidat des Blocks, der Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely, Péter Márki-Zay, kennzeichnete ihn selbst wie folgt:

Das Oppositionsbündnis sei „eine Regenbogenkoalition, in der Liberale, Kommunisten, Konservative und Faschisten vertreten sind“.

Als Teil des Wahlkampfs gab Viktor Orbán am 3. März ein langes Interview dem klassisch liberalen Magazin Mandiner. Das Interview geht neben der aktuellen Lage auf wesentliche Fragen der ungarischen Außen- und Innenpolitik ein, außerdem erklärt Orbán ausführlich seine Auffassung von Liberalismus und Konservativismus und die Zukunft des Letzteren in der westlichen Welt.

Er sagt offen, was er will und für richtig hält. Alle können wissen, womit man bei einem erneuten Wahlsieg des Fidesz-Blocks wird rechnen müssen, deshalb – aber bei weitem nicht nur deshalb – lohnt es sich, ihm zuzuhören.

Russland wird es auch nach dem Krieg geben

Geschuldet der aktuellen Lage fragten die Journalisten als erstes nach den ungarisch-russischen Beziehungen. Diese bezeichnete Orbán vor dem Angriff auf die Ukraine als „korrekt“. Er hat bei einem persönlichen Treffen mit Putin in Moskau wenige Wochen vor Kriegsausbruch einen langfristigen und günstigen Liefervertrag für Gas abgeschlossen, außerdem besteht seit zwei Jahren ein Vertrag zur Errichtung von zwei neuen Blöcken des ungarischen Kernkraftwerks in Paks, die bereits bestehenden zwei Blöcke sind ebenfalls russischer Bauart.

Der Widerspruch, in dem sich Ungarn infolgedessen befindet, ist offensichtlich.

Was die Sanktionen betrifft, werden wir kein Veto einlegen, wir hindern die EU nicht daran, Sanktionen gegen Russland einzuleiten. Denn zurzeit ist die Einheit der EU am wichtigsten.“

Doch dann fügt er hinzu: „Eines ist sicher, Russland wird es auch nach dem Krieg geben. Ungarn und die EU werden auch nach dem Krieg ihre eigenen Interessen haben. Es spricht nichts dafür, die Zusammenarbeit im Energiebereich zu unterbrechen.“

Im Weltmaßstab finde eine Veränderung der Machtverhältnisse statt. Möglicherweise werde in absehbarer Zeit China die führende Wirtschafts- und Militärmacht der Welt werden. Ein kleines Land wie Ungarn mit seinen zehn Millionen Einwohnern müsse deshalb außen- und wirtschaftspolitisch sehr vorsichtig vorgehen. Ungarn sei ein Verbündeter des Westens, aber gute Beziehungen zu der aufstrebenden Macht seien auch sehr wichtig. Orbán ist Realpolitiker ohne jedwede Sentimentalitäten:

„Wir wissen, wie die Welt bei einer angelsächsischen Dominanz aussieht. Aber wie eine von China dominierte Welt aussehen wird, wissen wir nicht. Die Angelsachsen haben den Anspruch, die Welt möge ihre Standpunkte als moralisch richtig akzeptieren. Für sie reicht es nicht aus, wenn man die Kräfteverhältnisse akzeptiert, sie wollen, dass man das, was sie für richtig halten, ebenso akzeptiert. Diesen Anspruch haben die Chinesen nicht.“

Der Ausbruch des ukrainisch-russischen Krieges habe für ihn klargemacht, dass die europäische Sicherheits- und Militärpolitik ein neues Fundament brauche. Europa müsse imstande sein, sich selbst zu verteidigen, es dürfe sich – bei Beibehaltung des Bündnisses – nicht allein auf Amerika verlassen

Europa brauche eine ernstzunehmende Armee und eine eigene bedeutende Militärindustrie.

Die NATO sei sehr wertvoll und müsse fortbestehen, eine Armee außerhalb der Nato aufzubauen sei nicht sinnvoll. Aber er sehe bei den politischen Führern Europas eine fehlende Bereitschaft, einen entsprechenden Teil der Wirtschaftsleistung auf Militärausgaben zu verwenden. „Geben wir zu, es war bequem in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten viel weniger für die Sicherheit auszugeben als die Amerikaner“.

Toleranzabkommen mit Deutschland

Nach der Bilanz der Kanzlerschaft von Angela Merkel befragt, sagte Orbán, diese Beurteilung würde in großem Maße davon abhängen, was auf diese Kanzlerschaft von 16 Jahren folge.

„Die Frage ist doch immer, im Verhältnis zu was war die Merkel-Ära gut oder schlecht. Im Verhältnis dazu, was wir gerne gehabt hätten, war sie nicht sonderlich herzerwärmend. Aber gemessen daran, was jetzt möglicherweise mit der neuen linken Regierung auf uns zukommt, werden wir diese Bilanz eines Tages vielleicht sogar positiv sehen. Doch letztendlich war sie diejenige, die die Migranten ins Land gelassen hat, sie hat die Grundsätze der deutschen Familienpolitik aufgegeben, die das traditionelle Familienmodell bis dahin geschützt hatten, und sie war es, die Deutschland in eine energiepolitische Richtung geführt hat, von der wir nicht wissen, ob sie aufrechterhalten werden kann. Das sind drei wichtige strategische Fragen.“

Von der neuen Regierung wisse man noch nicht, ob sie ihr beschlossenes Programm tatsächlich verwirklichen werde, und ob sie vorhabe, sie auf ganz Europa auszuweiten.

„Wir würden gerne ein Toleranzabkommen mit den Deutschen schließen, um unseren eigenen Weg in diesen Fragen (gemeint sind Gender, Freigabe der leichten Drogen und die Begründung einer europäischen Föderation) gehen zu können. Sie müssen nicht so werden wie wir, aber wir möchten auch nicht so werden wie sie.“

Unterschiede im geopolitischen Denken der V4

Ein wichtiger Bestandteil der ungarischen Außenpolitik war der Aufbau und die Stärkung der Zusammenarbeit im Rahmen des sogenannten Visegrád 4-Gruppe, zu der außer Ungarn Polen, die Slowakei und Tschechien gehören. Nun scheint die Haltung zum russisch-ukrainischen Krieg die Gruppe zu spalten. Wie sieht Orbán die Zukunft von V4?

Man habe bisher die militärischen Fragen aus der Zusammenarbeit ausgeklammert, weil den Beteiligten bewusst war, dass es in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten gibt. Aber nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine sei das nicht mehr möglich, da dies dadurch zur wichtigsten Frage überhaupt geworden sei.

Die Polen möchten die Grenze der westlichen Welt bis zur russischen Grenze vorschieben. Sie fühlen sich dann in Sicherheit, wenn dies zustandekommt, und die NATO – Polen mit inbegriffen – entsprechende Kräfte auf der westlichen Seite der Grenze konzentrieren kann. Deshalb unterstützen sie vehement die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Wir dagegen halten es für wünschenswert, dass es zwischen den Russen und den Ungarn ein ausreichend breites und tiefes Gebiet existiert. Heute heißt dieses Gebiet Ukraine. Dieser geopolitische Unterschied ist nicht wichtig, wenn man sich mit Brüssel über die Energiepreise streitet oder die Migration abwehren muss. Jetzt aber hat er eine größere Bedeutung, weil wir einen Krieg haben.

Aber das Entscheidende ist, dass die Polen immer wissen, dass sie auf Ungarn zählen können, und die Ungarn wissen, dass sie auf Polen zählen können.“

Im Gegensatz zur Distanz zur Westintegration der Ukraine wird von ungarischer Seite schon lange die euroatlantische Integration des Balkans gefordert. Orbán weist darauf hin, dass der Balkan kein sicherheitspolitisches „schwarzes Loch, kein Vakuum“ bleiben dürfe.
„Unser Argument ist, dass zwischen Ungarn und Griechenland kein in geopolitischem Sinne herrenloses Gebiet geben darf, das sich außerhalb der EU befindet und ein Spielfeld von amerikanischen, europäischen, russischen und türkischen Interessen ist. (…) der gegenwärtige Krieg unterstreicht die Notwendigkeit, diese ganze Region in die westliche Welt zu integrieren“.

Der Marxismus zehrt den Liberalismus auf

Zu guter Letzt wenden sich die Interviewer dem von Orbán einst geprägten – eher unglücklichen – Begriff der „illiberalen Demokratie“ zu. Heute benutzt der Ministerpräsident stattdessen den Ausdruck „konservative Renaissance“. Die sprachliche Schwierigkeit sei kein Zufall, antwortet Orbán, denn

seit Beginn der 90er Jahre hätten Konservative nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihre Sprache verloren.

In dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hätten europäische Demokraten gemeinsam gegen Faschismus und Kommunismus gekämpft. Die bis dahin im Wettbewerb stehenden zwei Richtungen innerhalb der Demokraten hätten sich gegen den gemeinsamen Feind zusammengeschlossen und gesiegt. Danach jedoch trennten sich ihre Wege, zumal innerhalb des Liberalismus die Doktrin entstanden sei, dass Demokratie und Liberalismus untrennbar zusammengehörten. Demokratie jedoch sei ein eigenständiger Begriff, der nicht ideologisch enteignet werden dürfe.
Innerhalb einer Demokratie kann sowohl eine liberale, als auch eine konservative, christdemokratische oder sogar eine sozialdemokratische Regierung entstehen. (…)

Anfang der 90er Jahre jedoch machten sich die Liberalen auf, die Demokratie selbst zu erobern.

Sie schlussfolgerten, dass es nicht darum gehe, wer auf demokratischer Grundlage eine bessere Politik machen kann, sondern dass man die Demokratie selbst besetzen müsse. Unsere Aufgabe ist jetzt auszusprechen, dass nicht jede Demokratie liberal ist…“

Doch inzwischen sei der Liberalismus in eine Falle geraten.
„Indem sie den Begriff der Demokratie enteigneten und den Konservativen und Christdemokraten ihre demokratische Legitimation absprachen, gaben die Liberalen die zwischen ihnen und den Konservativen bestehenden, auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Beziehungen auf. Das war ein großer Fehler, denn der Liberalismus war durch den Marxismus immer verwundbar. Dieser Verwundbarkeit haben die Liberalen lange dadurch entgegengewirkt, dass sie die geistigen Beziehungen zu den Konservativen aufrechterhielten. Aber nachdem sie sich von uns gelöst hatten, blieben sie mit den Marxisten allein.

Die Marxisten jedoch zehren den Liberalismus auf. Das geschieht in den USA und auch in Europa.

(…) Die auf der Freiheit beruhende Gleichheit wurde zur zentralen Idee des Liberalismus, aus ihrer Argumentation haben sie nach und nach Sitte und Tradition entfernt und wurden so jenen ausgeliefert, die immer neue Gleichheitsforderungen stellen. Es gab dann nichts mehr, was sie gegen diese Forderungen hätte verteidigen können. Zuerst kommt die Frage, ob gleichgeschlechtliche Beziehungen legal seien. Später dann auch, dass wir diese als gleichberechtigt mit denen zwischen Mann und Frau betrachten sollen. Bald sind wir so weit, dass diese Beziehungen doch nicht auf zwei Menschen eingeengt werden sollten, denn auch andere Kombinationen seien denkbar. Es wird immer Menschen in einer Gesellschaft geben, die vermeintlich oder tatsächlich Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse geworden sind und nun die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Lösung ihres Problems fordern. So erscheinen am linken Rand der Liberalen die absurdesten Forderungen, und weil wir denen von rechts im Namen von Sitte und Tradition nicht entgegenwirken können, dringen sie Schritt für Schritt in den Liberalismus ein und besetzen schließlich dessen Zentrum.

Am Ende steht die vollständige Eroberung des liberalen Lagers durch den Marxismus. Das geschieht zurzeit, das ist das, was als woke bezeichnet wird.

Deshalb müssen wir damit rechnen, dass der christlichen Demokratie alsbald nicht der Liberalismus, sondern der Marxismus, der nur noch Reste des Liberalismus enthält, gegenübersteht.“

Wandel durch konservativen Sieg in einem EU-Gründungsland

Natürlich hofft Orbán auf einen Sieg seiner Fidesz Partei, und vieles spricht zurzeit dafür, dass er ein viertes Mal Ministerpräsident Ungarns wird. Ungarn ist ein kleines Land, und allein können die ungarischen Konservativen selbst im Falle eines erneuten Wahlsieges nicht viel bewirken, deshalb blickt er in dieser Hinsicht mit wenig Optimismus in die Zukunft.

Wir dürfen unsere eigene Wichtigkeit nicht überschätzen. Um eine konservative Wende in Europa einzuleiten, dafür wird unser Sieg nicht ausreichen. So lange nicht wenigstens eines der Gründungsländer der EU den gleichen Weg wie wir wählt, wird der konservative, christlich demokratische Geist starken Gegenwind haben. So lange wird man immer wieder behaupten, der geistige und strategische Widerspruch zwischen Links und Rechts sei nur ein Streit zwischen dem Westen und den neu hinzugekommenen, die westliche Entwicklung entbehrenden osteuropäischen Hinterwäldlern.“

a https://www.achgut.com/artikel/ungarn_waehlt_der_scharfe_blick_des_victor_orban

AZ EREDETI TELJES INTERJÚ MAGYARUL: https://mandiner.hu/cikk/20220302_kozelet_orban_viktor_interju_orosz_ukran_haboru

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