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„Bei uns herrschen Recht und Ordnung auf den Straßen“

8. März 2025 Pragmaticus Interview mit Balázs Orbán

Balázs Orbán LL.M. ist Politischer Direktor des ungarischen Ministerpräsidenten (im Rang eines Ministers). Im Interview mit dem Pragmaticus erklärt er, warum die europäischen Länder auf mehr Souveränität pochen sollten und die Macht von Brüssel wieder mehr zu den Ländern wandern sollte. Den Krieg in der Ukraine hätte man seiner Ansicht nach schon viel früher beenden können. Jetzt hofft er auf Donald Trump und setzt auf ein erstarkendes Europa. 

Der Pragmaticus: Österreich und Ungarn haben eine lange gemeinsame Geschichte. Wie war das Verhältnis in den letzten fünf Jahren?

Balázs Orbán: Nicht schlecht, nicht gut, würde ich sagen. Wir sind Nachbarn und Österreich ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner und Investoren. Wir Ungarn versuchen immer, unsere österreichischen Freunde davon zu überzeugen, eine stärkere strategische Dimension der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern aufzubauen. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch als eine zentrale, gemeinsame Vertretung der mitteleuropäischen Sichtweise, ob in Brüssel, auf der globalen Bühne oder in der Nachbarschaft. Und wir wurden immer, ich will nicht sagen offen abgelehnt, aber auch nicht ernst genommen. Dabei ist der zentrale europäische Geist, der auf der Geschichte und auf der gleichen geografischen Lage beruht, ein guter Ausgangspunkt, um unsere Zusammenarbeit zu vertiefen. 

Glauben Sie, dass sich unsere Beziehungen unter einem Kanzler Herbert Kickl vertiefen würden? 

Die Sorgen der FPÖ über Brüssel und über die globalistische oder liberale Agenda, die aus dem Westen kommt, sind dem sehr ähnlich, was wir erleben und was auch wir als Gefahr identifizieren. Und wenn wir die gleiche Analyse haben, können wir auch aktiv zusammenarbeiten, um unsere Gesellschaft und unser Volk zu schützen.
Warum gibt es keinen österreichischen, ungarischen, slowakischen oder tschechischen Runden Tisch oder ein Treffen zwischen den Premierministern vor dem Europäischen Rat? Wir haben viele gemeinsame Probleme, wir hätten eng zusammenarbeiten können. Und ich glaube, dass Brüssel wirklich versucht, die Nationalstaaten und die nationalen Interessen Österreichs und Ungarns zu untergraben, also warum arbeiten wir nicht aktiv zusammen, um unsere Interessen zu verteidigen? Ich glaube, die FPÖ hat das verstanden. Das macht es einfacher für uns.

Das wichtigste gemeinsame Ziel ist, unsere nationalen Interessen gegen die Brüsseler Bürokraten zu schützen.

Welche Punkte haben Sie denn mit dem Programm oder den Zielen FPÖ gemeinsam?

Wir sind in der gleichen europäischen Parlamentsfraktion, sie heißt Patriots. Es ist also offensichtlich, dass wir einige gemeinsame Ziele haben. Das wichtigste gemeinsame Ziel ist, unsere nationalen Interessen gegen die Brüsseler Eliten und die Brüsseler Bürokraten zu schützen. Sie haben die Zentralisierung der Macht in Europa vorangetrieben und haben mit dieser Macht sehr schlechte Entscheidungen auf verschiedenen Gebieten getroffen, auf dem Gebiet der Migration, auf dem Gebiet der grünen Politik, auf dem Gebiet des Krieges, auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wettbewerbsfähigkeit und so weiter.
Nach unserem Verständnis sollten die Entscheidungsfindung nicht mehr in der Europäischen Union zentralisiert werden, sondern an die Nationalstaaten und nationalen Regierungen zurückgegeben werden, die fähig sind, die Probleme ihrer eigenen Bevölkerung zu lösen. Das ist die Grundlage der Patriots als europäisches parlamentarisches Format. Diese Patrioten für Europa sind die erste von Mitteleuropa initiierte parlamentarische Gruppe im Europäischen Parlament. 

Auf wessen Initiative hin wurden sie gegründet?

Von Ungarn, Österreich und der Tschechischen Republik gemeinsam. Also die einstige österreichisch-ungarische Monarchie. Das mitteleuropäische Element und die mitteleuropäische Art, die Welt zu verstehen, ist in dieser parlamentarischen Fraktion also stark vertreten.

Eines der Hindernisse für eine bessere Beziehung zur Europäischen Union sind die Korruptionsvorwürfe gegen die ungarische Regierung. Wie stehen Sie dazu?

Nun, wir kennen das Drehbuch der Liberalen, wir haben es schon tausendmal gesehen. Und nicht nur gegen Ungarn, sondern gegen alle nationalkonservativen Regierungen und politischen Bewegungen. Die Liberalen versuchen, sie alle als korrupte Autokraten darzustellen. erstens mit Hilfe der Medien, zweitens mit Hilfe der NGOs und drittens, in vielen Ländern leider auch mit Hilfe der Justiz. Ob Trump, Le Pen oder Salvini. Es ist immer die gleiche Methode. Und jedes Mal stellt sich heraus, dass es nur ein gefälschtes Bild ist.

Sie sagen also, dass es in Ungarn gar keine Korruption gibt?

Ich sage, natürlich ist die Korruption ein Problem für jedes Land, und jede Regierung ist dafür verantwortlich, sie zu bekämpfen. Aber die Situation in Ungarn ist nicht schlechter als in anderen Ländern. Und sie ist viel besser als in vielen anderen Ländern.

Dass Ungarn im Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 76 von 180 Ländern als korruptestes Land der Europäischen Union ausgewiesen wird, kümmert sie also nicht?

Ich meine, ernsthafte Menschen können Transparency International und andere NGOs nicht mehr ernst nehmen. Länder wie Ghana und Benin sind in der Nähe von Ungarn gereiht. Das ist offensichtlich eine Lüge. Dieses ganze Ranking wird von George Soros finanziert, der Regierungen durch Korruptionsvorwürfe unter Druck setzen will. So setzt er sein Vermögen ein. Vor 20 Jahren hätte man diese Institutionen vielleicht noch ernst nehmen können, aber jetzt nicht mehr. Sie sind Teil des politischen Spiels geworden. Aber das sollte nicht in unserem Fokus stehen.
Die Weltbank zum Beispiel befragt Unternehmen, ob sie Anzeichen von Korruption in ihrem Land feststellen. Und nach dieser Rangliste, die viel objektiver ist, liegt das Korruptionsniveau in Ungarn unter dem Durchschnitt und ist viel besser als in Frankreich und in manch anderen Ländern. Ich würde also jeden ermutigen, sich bewusst zu machen, wie diese Rankings und Standards heute missbraucht werden, insbesondere wenn sie von George Soros und seinen Leuten finanziert werden.

Immer wieder George Soros. Haben Sie eine spezielle Agenda gegen Soros oder hat er eine spezielle gegen Ungarn?

Ich glaube, er hat in vielen Ländern eine spezielle Agenda. Wenn Sie den amerikanischen Wahlkampf aufmerksam verfolgen, sehen Sie das. Er finanziert Kandidaten.

Wie viele andere Millionäre oder Milliardäre auch. 

Ja, aber die Frage ist, wie viel Geld man in dieses System steckt. Und George Soros hat in den letzten zwanzig, dreißig Jahren ohne jegliche demokratische Legitimation enorme Geldsummen investiert, um die europäische und amerikanische Politik zu beeinflussen. Und er ist Ungar. Er hat also ein besonderes Interesse an Ungarn.
In Ungarn wurden während des Wahlkampfs 2022 die Opposition, die Medien und das Thinktank-Netzwerk von ihm finanziert. Hier in Österreich ist das Thema wahrscheinlich nicht so ernst, aber in Ungarn ist es das. Und wenn man die polnischen Rechtsparteien fragt, warum sie die Wahlen verloren haben, würde der Name George Soros wahrscheinlich auch sehr schnell fallen. Denn er mischt sich auf viele Arten in die mitteleuropäischen Wahlen ein. Und ich denke, es ist völlig legitim, diesen Aspekt der Geschichte anzusprechen.

Nun, Regierung bedeutet Macht. Und ich denke, wir sind uns doch einig, dass Macht Kontrolle braucht.

Ja, das ist die Grundlage eines demokratischen parlamentarischen Systems.  In Ungarn ist alles politisch.

Aber Kontrolle erfolgt nicht nur innerhalb des Parlaments. Es braucht auch unabhängige Medien und Gerichte. Und einer der Hauptvorwürfe lautet ja, dass Ministerpräsident Orbán Medien und Gerichten die Macht entzieht.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit Sie in Ungarn verbringen und ob Sie den öffentlichen politischen Diskurs in Ungarn verfolgen können. Es tut mir leid, das zu sagen, aber die ungarische politische Debatte ist lebendiger und offener als die österreichische. Ich verfolge beide. Und die Stimmen, die gegen die Regierung sind, werden sehr gut gehört. Man hat nicht auf der einen Seite die Mainstream-Medien, die 90 Prozent abdecken, und der Rest sind Soziale und ein paar klassische Medien.
Das ist in Ungarn nicht der Fall. Es ist ungefähr fifty-fifty. Und die stärkste Medienplattform ist die am meisten regierungsfeindliche. Wenn Sie also in Ungarn leben oder das ungarische politische Spektrum kennen, ist das eine lächerliche Anschuldigung. Die Ungarn sind überpolitisiert, sie diskutieren gerne jedes politische Detail. Das ist Teil unserer Kultur, politisch zu sein. Und zwar viel mehr als in Österreich, denke ich. In Ungarn ist alles politisch.

Gibt es nicht eine große Kluft zwischen dem Land und der Hauptstadt, sowohl in der Medienlandschaft als auch in der öffentlichen Meinung?

Gibt es nicht auch eine große Kluft zwischen der Medienlandschaft und der politischen Meinung am Land und in Wien? Es stimmt, dass Budapest wahrscheinlich weniger nationalkonservativ und liberaler ist. Allgemein sind die Menschen in der Großstadt liberaler. In Ungarn war die wirtschaftliche Situation in den letzten zwei Jahren nicht so schlecht, aber wir hatten auch Schwierigkeiten wegen des Krieges. Und in dieser Situation hat die Regierung 2022 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 45 Prozent der Stimmen erhalten, eine der höchsten Zustimmungsraten in Europa. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass die Regierung Entscheidungen trifft, die auch denen, die nicht mit der Regierung einverstanden sind, wirtschaftliche Vorteile bringen.
Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass die Regierung daran arbeitet, ihnen das Leben zu erleichtern, dann werden sie selbst in den großen Städten unterstützt. Die Fidesz bekommt selbst in Budapest 40 Prozent. Das ist im Vergleich zum Wiener Standard ziemlich hoch für die rechte Seite. Und es liegt daran, dass wir Programme zur Senkung der Lebenshaltungskosten fahren, die billigste Energie in Europa haben und es keine Migranten gibt, also Recht und Ordnung auf den Straßen herrschen. Selbst wenn also jemand Ministerpräsident Orbán oder Fidesz nicht mag, sieht er oder sie trotzdem, dass die grundlegenden Elemente der Regierung in Ordnung sind.

Vor ein paar Monaten hat Oppositionsführer Péter Magyar im ORF ein Interview gegeben. Er legte seinen Schwerpunkt nur auf zwei Punkte: Wirtschaft und Korruption.

Ich glaube nicht, dass das seine wichtigsten Punkte sind. Er lügt, denn er hat sich mit der EVP zusammengetan, mit Manfred Weber und dessen Fraktion. Und sie versuchen genau dasselbe zu tun, was Manfred Weber vor den Wahlen zum Europäischen Parlament getan hat. Sie sprachen sich für einen Wandel und für einen Paradigmenwechsel nach rechts aus. Sie sammelten die Stimmen, aber nach den Wahlen zum Europäischen Parlament bildeten sie offiziell eine Koalition mit den Linken, den Sozialisten, den Liberalen und den Grünen. Sie haben also die rechten Wähler verraten, die für die EVP-Parteien gestimmt haben, weil sie einen Wandel wollten. Sie haben das gesamte politische Spektrum nach links verschoben.

Wenn kein Feuer hinter dem Rauch ist, warum sollte er sich dann auf diese beiden Punkte konzentrieren?

Seine eigentliche Kampagne ist, dass wir Souveränität aufgeben müssen. Er will es nur verbergen. Ein wenig Souveränität aufzugeben, jetzt in der Situation des Krieges, der Migration, der Genderfragen, ist gefährlich. Wir müssen verstehen, dass die Menschen in Europa drei wirklich harte Jahre hatten. Die Mittelschicht hat überall in Europa gelitten. Und zwar aufgrund der schlechten Entscheidungen Brüssels, der europäischen Eliten und der europäischen Regierungen.
Wenn man sich indirekt in einen Krieg begibt, also eine Partei unterstützt, die gegen eine andere Partei kämpft, dann hat das wirtschaftliche Konsequenzen. Eine Konsequenz ist die Kriegswirtschaft, die eine enorme Inflation mit sich bringt, die wiederum auf lange Sicht wirtschaftliche Stagnation bedeutet. Die Entscheidung, die Energiekooperation mit Russland zu beenden, hat die Energiepreise erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen zerstört. Wir Ungarn versuchen, uns zu wehren und unsere Wirtschaft zu retten. Das ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen, aber wir müssen den Krieg beenden.

Es ist verrückt, auf russische Importe zu verzichten und dann eine andere Art von Abhängigkeit zu einem höheren Preis zu schaffen.

Die Energiekrise in Deutschland ist doch mehr auf die Energiewende zurückzuführen als auf den Ausfall Russlands als Gaslieferant. 

Die Deutschen haben bei ihrer Entscheidung für die Energiewende mehrere Fehler gemacht. Wenn die Menschen für die Kosten aufkommen müssen, bringt das Inflation und instabile Energieversorgung mit sich. Die Zusammenarbeit im Energiebereich war ein Garant für billige und nachhaltige Energiezufuhr aus Russland. Sie zu beenden, hat einen Zusammenbruch verursacht, nicht nur in Deutschland, sondern überall.

Es gibt einen Unterschied zwischen Kooperation und Abhängigkeit. Und gerade Österreich und Ungarn haben einen unvernünftig hohen Anteil an russischem Gas. 

Da stimme ich Ihnen nicht zu, denn für uns ist die Diversifizierung der potenziellen Energieimporte am wichtigsten. Die Frage ist, ob man in der Lage ist, eine Quelle durch eine andere zu ersetzen. Es ist verrückt, auf russische Importe zu verzichten und dann eine andere Art von Abhängigkeit zu einem höheren Preis zu schaffen.
In Ungarn haben wir einen langfristigen Vertrag, der etwa 50 Prozent unseres Bedarfs deckt. Dafür haben wir uns freiwillig entschieden, weil das die billigste und nachhaltigste Lösung ist. Ungarn ist einer der größten Befürworter von grüner Energie. Denn grüne Kapazitäten bedeuten Unabhängigkeit, weil man sie im eigenen Land produziert. Die Frage ist, wie kann man den Übergang politisch bewältigen? Und da haben die Deutschen schwere Fehler gemacht. Wenn man sich mitten in der Energiewende befindet, die Beziehungen zu den Russen kappt und die Kernenergie abschafft, können diese zwei Säulen nicht gleichzeitig ersetzt werden. Und wir alle zahlen den Preis für diese verrückten, überideologisierten Entscheidungen. 

Die Inflation liegt doch nicht nur an den Gaspreisen. Jeder weiß, dass die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank in eine Inflation führen musste. Die beschränkte sich zuerst auf Sachwerte wie Immobilien oder Aktien, danach ist die Inflation beim Konsumenten angekommen. 

Ich verstehe, was Sie sagen. Aber diese Art von Inflation seit Beginn des Krieges war eine andere Art von Inflation. Was wir vor dem Krieg hatten, war konjunkturbedingt. Denn nach COVID erholten wir uns wirtschaftlich sehr schnell. Und eine wachsende Produktion bringt ein bisschen höhere Inflation mit sich. Aber in den letzten zwei Jahren hatten wir in Österreich, in Ungarn und in anderen Ländern hohe Inflation und hohe Rezession mit hohen Zinssätzen. Das ist ein typisches Beispiel für eine Kriegswirtschaft, die auch zu einer gewissen Vorsicht und Angst bei Investoren führt.
Das ist die gefährlichste Kombination, die durch den Krieg ausgelöst wird. Sie kann nur gestoppt werden, wenn der Krieg zu Ende ist, denn dann ist die wirtschaftliche Unsicherheit vorbei und man kann Anleger wieder überzeugen, mehr Geld in die Wirtschaft zu investieren. Ich hoffe, dass dieses Jahr diesen Paradigmenwechsel bringen wird. Darauf bereiten wir uns vor.

Ich nehme an, Sie setzen Ihre Hoffnung auf Donald Trump, um den Krieg zu beenden?

Ja, wir setzen unsere Hoffnung auf die Beendigung des Krieges durch Trump.

Welchen Preis sollte man Ihrer Meinung nach für so eine Art Frieden zahlen? 

Ich bin in vielerlei Hinsicht ein Realist. Was ich sehe, ist, dass dieser Krieg schon drei Jahre andauert. Und was ist passiert? Die Ukraine hat mehr Territorien verloren als 2022. Sie hat Hunderttausende von Menschen verloren. Millionen haben das Land verlassen. Wirtschaftlich ist das Land völlig ruiniert, und auf dem Schlachtfeld ist man nach drei Jahren auf verlorenem Posten. Aus humanitärer und völkerrechtlicher Sicht ist die Situation schwarz-weiß: Russland ist ein Aggressor und die Ukraine hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Das stelle ich nicht in Frage. Ich sage nur, dass Entscheidungen Konsequenzen haben. Und bisher sieht die Lage für die Ukraine nicht rosig aus.

Es läuft für die Ukraine schlecht, weil der Westen ihr nicht gegeben hat, was sie braucht. Alles kam zu wenig und zu spät. Wenn man der Feuerwehr das Wasser abdreht, kann man ihr schlecht vorwerfen, dass sie den Brand nicht löscht.

Deshalb haben wir Ungarn vom ersten Moment an gesagt, dass diese Strategie des Westens eine Sackgasse ist. Wenn man diesen Konflikt lösen will, gibt es meiner Meinung nach zwei Möglichkeiten. Die eine, die wir Ungarn nicht empfehlen würden: ein umfassender Krieg NATO gegen Russland. Wir würden das nicht wollen, aber wenn die Vereinigten Staaten und Österreich oder Deutschland oder Frankreich das wollen, dann hätte man das machen können. Dann muss man aber auch Bodentruppen einsetzen und eine Invasion im großen Stil durchführen. Polen und die baltischen Länder haben vom ersten Tag an über diese mögliche Strategie gesprochen. Die zweite Möglichkeit ist, dass man versucht, Frieden zu schließen, wenn man nicht in einen direkten Krieg mit Russland verwickelt werden will. 

Dazu gehören aber zwei. 

Ja, aber nachdem die Verhandlungen in Istanbul und anderswo begannen, wurden sie plötzlich abgebrochen, weil einige westliche Politiker zusammen mit der ukrainischen Führung das so entschieden haben. Ich stelle ihr Recht auf diese Entscheidung nicht in Frage, aber Entscheidungen haben Konsequenzen. Und mit den Konsequenzen sind wir jetzt konfrontiert. Jeder muss erkennen, dass der Krieg verloren ist. Und je früher wir diesen Konflikt beenden, desto besser wäre es für beide Parteien, die den Krieg führen, aber auf jeden Fall für Europa. Wir ungarischen Politiker denken nicht, dass es unser Krieg ist. Es ist ein Krieg in unserer Nachbarschaft.

Länder wie Polen und die baltischen Staaten sind der EU beigetreten, um ihre nationale Identität zu schützen. Und jetzt sehen sie sie erneut durch Russland bedroht. Wer kann garantieren, dass sich Russland mit den Gewinnen in der Ukraine zufriedengeben würde?

Nun, ich verstehe deren unterschiedliche Reaktion aufgrund der historischen Erfahrungen. Aber die Frage ist letztlich, in welcher Situation wir Europäer uns in diesem Konflikt befinden. Es gibt in unserer Nachbarschaft einen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Der größte Beschützer der Ukraine sind aber die USA und sind nicht die Europäer. Nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie nicht in der Lage sind, die gleiche Menge an finanzieller oder militärischer Unterstützung zu leisten.
Welche Regierung wird es wohl sein, die ein Abkommen mit Russland über die Ukraine und hoffentlich über die gesamte Sicherheitsarchitektur der NATO und Russlands schließt? Die europäischen Länder werden nicht einmal an den Verhandlungen teilnehmen. Die Strategie der Europäer war sogar in der Krim-Situation besser. Sie konnten zwar keine langfristige Lösung finden, aber sie haben den Konflikt mit Russland zumindest eingefroren. 

Resultiert nicht vielmehr der Überfall Russlands auf die Ukraine auch daraus, dass die Annexion der Krim mehr oder weniger folgenlos geblieben ist?

Nein. Das Problem war nicht das Minsker Abkommen, sondern dessen Umsetzung. Die Ukrainer haben sich den Amerikanern zugewandt und die Russen haben es auch nicht ernst genommen. Aus diesem Grund hat das Minsker Abkommen nicht funktioniert: Die Schwäche der Europäer, der amerikanische Einfluss und die russischen Ziele.

Sie werden mit dem Satz zitiert, Sie hätten nicht so reagiert wie Zelensky vor zweieinhalb Jahren, weil das unverantwortlich gewesen sei. Was ist eine verantwortungsvolle Reaktion für ein unabhängiges Land, wenn ein fremdes Land dort einmarschiert?

Diplomatie. Sie hatten die Chance eine Einigung zu erzielen im Februar, im März, als die Verhandlungen liefen. Das war eine Chance. Die hätten sie nutzen sollen.

Blicken wir in die Zukunft. Vergleicht man die Entwicklung des BIP gesamt und pro Kopf, haben sich Polen und Ungarn ungefähr parallel entwickelt. Anders bei der Staatsverschuldung, die heute in Ungarn viel höher ist als in Polen. Wenn die beiden Staaten Unternehmen wären, welche Aktien würden Sie kaufen? 

Natürlich Ungarn. Die Verschuldung ist unser Erbe. Sie stammt nicht nur aus der kommunistischen Ära, sondern auch aus der Zeit, als die Sozialisten wieder zurückkamen. Wir können nicht das Wirtschaftsmodell unserer Nachbarn verwenden, denn unsere Verschuldungsquote war höher. Und wenn ein Staat hoch verschuldet ist, ist er abhängig. Wir müssen also wirtschaftlich erfolgreich sein und gleichzeitig die Verschuldung senken. Wir müssen unsere Ressourcen nutzen, um zu wachsen. Also nicht mit Schulden, sondern mit unseren eigenen Mitteln. Wahrscheinlich geht das etwas langsamer, aber langfristig ist es nachhaltiger.

Wir leben in einer Art Kalten Krieg 2.0 zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen Seite und einem Block aus China und Russland sowie Teilen des globalen Südens auf der anderen. Ungarn ist Teil der NATO, steht aber politisch zwischen den Blöcken. Wie werden Sie sich als NATO-Mitglied in diesem Konflikt positionieren? 

Wir lehnen die Logik der Blockbildung generell ab. Unsere nationale Strategie basiert auf Konnektivität. Wir sehen die NATO etwas enger. Uns geht es nicht darum, welche militärischen Operationen wir auf der Grundlage ähnlicher geopolitischer Ansätze außerhalb des NATO-Gebiets gemeinsam durchführen. Es geht darum, uns gegenseitig zu verteidigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die NATO die erfolgreichste stärkste militärische Initiative der Welt. Warum sollten wir das also ändern wollen? Wir verstehen, dass es eine Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China gibt. Aber raten Sie mal, wer der größte Handelspartner der Vereinigten Staaten ist? China.
Wir Europäer und Ungarn haben also auch das Recht, mit China in wirtschaftlichen Fragen zusammenzuarbeiten. Wir wollen also nicht zulassen, dass beim Handel, bei ausländischen Direktinvestitionen, auf dem Markt und in technologischer Hinsicht zu einer Blockbildung kommt, bei der nur mehr die westliche Seite in Betracht kommen darf. Das ist eine Frage der Souveränität. Mehr Handlungsspielraum bedeutet mehr Souveränität für unser Land. 

Ein Kalter Krieg wird nicht mit militärischen Mitteln geführt. Und die USA werden unter Trump nicht deeskalieren, sondern die Europäer wirtschaftlich zu Entscheidungen zwingen.  

Ich stimme mit Ihnen überein. Aber in dieser neuen Weltlogik besteht die einzige Chance für kleine Länder wie Österreich und Ungarn, ihre nationalen Interessen zu verteidigen, in der Ablehnung der Logik des Kalten Krieges. Stattdessen müssen wir eine Strategie entwickeln, die auf Konnektivität, auf Anschlussfähigkeit basiert. Wenn wir dafür nicht kämpfen, werden wir als Peripherie eines einzigen Blocks enden. Die USA haben einen Handelskrieg gegen China begonnen, den größten Markt für die europäischen Länder. Die Position der Europäer ist sehr schwach: Im Energiebereich haben sie die Zusammenarbeit mit Russland eingestellt, ihrem größten Energielieferanten. Und jetzt befinden sie sich in einer ideologischen Konfrontation mit Donald Trump, obwohl die USA als Kapitalgeber sehr wichtig für Europa sind.
In allen Beziehungen ist Europa also nur Juniorpartner: Ob Energie, Russland, Markt, China oder Kapital. Warum nehmen wir das hin? Warum wehren wir uns nicht, und warum schützen wir nicht unsere nationalen Interessen? Ich denke, der größte Verrat der europäischen Interessen geschah unter der Biden-Administration. Der Inflation Reduction Act war eindeutig ein antieuropäischer Akt. Er richtete sich nicht gegen China, sondern gegen Europa.

Die Europäische Union schützt ihre Wirtschaft doch ebenfalls durch Zölle und Regulierungen. 

Nein. Macron und mein Premierminister haben empfohlen, dass wir mit denselben Initiativen reagieren sollten. Aber es wurde abgelehnt, weil alle sagten, wir sollten nicht auf Konfrontation mit den Amerikanern gehen, denn sie unterstützen uns in der Ukraine. Also hat Europa seine Positionen aufgegeben. Auch wenn es Dinge gibt, die geregelt werden sollten, wie zum Beispiel das Handelsgleichgewicht und wirtschaftliche Fragen mit den Vereinigten Staaten: Ich hoffe auf ein Europa, das aufsteht und seine eigenen Interessen vertritt. Die amerikanischen Partner sind Nationalisten, sie verteidigen ihre nationalen Interessen. Das sollten wir auch tun. Sie haben eine andere Verhandlungsstrategie. Sie sind Cowboys, keine Bürokraten. Daher sollten auch die Regierungschefs in Europa eine Führungsrolle übernehmen und die Bürokraten ablösen.

Wo sehen Sie diese Leader in Frankreich oder Deutschland?

Das ist ein großes Problem, aber es muss gelöst werden. Ich hoffe, dass die deutschen und französischen Wähler, sobald sie können, ein starkes Mandat für ein neues Paradigma erteilen werden. Deshalb ist es wichtig, eine einheitliche mitteleuropäische Stimme zu haben. Das ist eine Chance für Mitteleuropa und für die Länder der ehemaligen österreichischen Monarchie, sich aktiver an der Formulierung der europäischen Position zu beteiligen.

Das europäische Mindset zu ändern, ist ein Projekt für ein, zwei Generationen.

So viel Zeit haben wir nicht. Aber ich bin optimistischer als Sie, denn ich glaube, die Wähler sehen das. Auch wenn die europäischen Politiker verzweifelt alles versuchen, um ihre Positionen zu schützen, werden die europäischen Menschen neue Regierungen mit neuer Legitimität und neuen Ideen bilden. Andersrum wird es nicht laufen. Und wir wissen, dass Ungarn den Unterschied machen kann, als ein Land, das mit einer anderen Strategie Erfolg hat. Wir können viel stärker werden, wenn wir auf der Grundlage dieser neuen Plattformen zusammenarbeiten, statt einen ideologischen Krieg gegeneinander zu führen. Ich denke, dass der wirtschaftliche und allgemeine Niedergang und die politische Misswirtschaft in Deutschland und Frankreich so offensichtlich sind, dass die Wähler neue Anführer wählen werden.

Wir werden sehen, ob die es dann besser machen.

Natürlich, aber es wird passieren.

Originelle Erscheinung: https://www.derpragmaticus.com/r/balazs-orban-interview-ungarn

Balázs Orbán (1986) Seit 2018 ist er stellvertretender Minister und parlamentarischer und strategischer Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt. Seit 2021 Politischer Direktor des Ministerpräsidenten.

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